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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

372–374

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Blum, Wilhelm, Gaisbauer, Helmut P., u. Clemens Sedmak

Titel/Untertitel:

Subsidiarität. Tragendes Prinzip menschlichen Zusammenlebens.

Verlag:

Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2021. 228 S. Kart. EUR 24,95. ISBN 9783791732435.

Rezensent:

Marco Hofheinz

Das Subsidiaritätsprinzip gehört neben dem Personalitäts-, Ge­meinwohl- und Solidaritätsprinzip zu den Grundlagen der rö­misch-katholischen Soziallehre. Es handelt sich um einen gesellschaftlichen Gestaltungsgrundsatz, der etwa für die deutsche Wohlfahrtstradition und das Wirken freier Träger sozialer Einrichtungen konstitutiv ist. Der vorliegende Band ist im Kontext des Salzburger IFZ (Internationales Forschungszentrum für soziale und ethische Fragen) und seines dortigen Schwesterinstituts, des »Zentrums für Ethik und Armutsforschung«, entstanden. Er geht der erkenntnisleitenden Frage nach, ob und wie dieser Grundsatz dem Problem persistenter Armut in prekären Gesellschaften be­gegnen kann. Dies geschieht anhand von drei recht ausführlichen Studien, die der Politikwissenschaftler Wilhelm Blum, der Sozialwissenschaftler Helmut P. Gaisbauer und der Sozialethiker Clemens Sedmak vorlegen.
Der erste Beitrag (13–104), der aus der Feder Wilhelm Blums stammt, ist grundlegender Natur und erläutert das Prinzip der Subsidiarität anhand von Beispielen aus Geschichte, Literatur und Politik, die dessen geistesgeschichtliche Wurzeln offenlegen. Der Begriff Subsidiarität meint, wie Blum eingangs definiert, den »Eingriff oder Zugriff seitens einer kleineren Einheit zu jenem Punkt, in dem andere, höhere, Organisationen versagen, sei es, dass sie nicht mehr können, sei es auch, dass sie nicht mehr wollen« (15). Die jeweils kleineren sozialen Organisationsformen sollen, wo auch immer möglich, das (etwa zur Bekämpfung von Armut) Notwendige vor Ort tun. Dadurch wird das Handeln übergeordneter Institutionen wie des Staates begrenzt.
Wie Blum zeigt, ist das Subsidiaritätsprinzip, das begrifflich auf die Enzyklika »Quadragesimo Anno« von Papst Pius XI. zurückgeht, der Sache nach sehr viel älter. Es begegnet nicht nur bei einigen (frühen) Christen (etwa einigen Apostolischen Vätern, in der »Monarchie« von Dante Alighieri oder der Regel des heiligen Benedikt), sondern auch in »heidnischer« Philosophie (etwa beim Konsul Menesius Agrippa, bei Platon und Cicero) sowie in neuzeitlichen Verfassungen (etwa der Verfassung Frankreichs von 1791, dem Grundgesetz der BRD oder dem Bundesverfassungsgesetz Österreichs von 1929). Das exemplarische Vorgehen schließt auch Gegner der Subsidiarität (von Pseudo-Dionysios Areopagita, über Jean-Jacques Rousseau und Lenin, bis zum Nationalsozialismus) sowie Beispiele aus der Literatur (von Franz Grillparzer bis Homer) ein. Das Kapitel endet mit einem vergleichsweise recht knappen theologischen Grundlegungsversuch (92–104), wobei dieser Umstand wohl dem gewissermaßen transtheologischen Demonstrationszweck geschuldet ist: »Das Prinzip der Subsidiarität ist […] nicht einzig christlich-katholisch, sondern allumfassend und allgemein menschlich: Diese Feststellung ist für alle Zeiten der Menschheit gültig, also auch für unser 21. Jahrhundert.« (7)
Als Protestant hätte man sich die Berücksichtigung auch evangelischer Referenzen gewünscht, etwa einen Hinweis auf Johan-nes Althusius (1563–1638), der mit seinem Zentralgedanken der consociatio symbiotica als Vordenker des Subsidiaritätsprinzips als Grundlage des menschlichen Zusammenlebens gilt.
An diesen Grundlegungsversuch schließen zwei Fallstudien an, die zum einen dem Projekt des humanitären Korridors in Kontext von Italiens Flüchtlings- bzw. der europäischen Migrationspolitik gewidmet sind und zum anderen einem Bildungsprogramm für benachteiligte Kinder in Rumänien.
Bei der ersten Fallstudie (105–167), die Clemens Sedmak ausgearbeitet hat, geht es »um das Projekt eines im Jahr 2017 vereinbarten Humanitären Korridors, über den im Einvernehmen mit der italienischen Regierung und drei Nichtregierungsorganisationen 500 Flüchtlinge aus einem äthiopischen Flüchtlingslager nach Italien gebracht worden sind« (108 f.). Anhand dieses Programms (getragen von zwei NGOs, der Caritas Italiana und der Gemeinschaft Sant’ Egidio), das sich als Ausdruck einer subsidiären Flüchtlingspolitik versteht, zeichnet Sedmak im Rückgriff auf 300 Interviews mit un­ terschiedlichen Stakeholdern Konturen des Solidaritätsbegriffs nach. Es gelingt Sedmak, bei seinen Erkundungen zu einer dichten Praxis von Subsidiarität die Verschränkung der vier Grundprinzipien katholischer Sozialethik fallbezogen aufzuzeigen (vgl. besonders 165 f.). Er gebraucht sie, um Konfliktlinien eines europäischen Dilemmas zu benennen, wo­nach »einerseits europäische Werte wie Solidarität, Subsidiarität und Menschenwürde hochzuhalten [sind], andererseits Migration dennoch zu gestalten« (167) ist. Als minima moralia im Umgang mit diesem Dilemma von zu gewährender Nothilfe einerseits und der Gestaltung einer dauerhaften sozialen Ordnung andererseits, schlägt Sedmak im Geiste Avishai Margalits die Vermeidung von Grausamkeit vor.
Abschließend präsentiert Helmut P. Gaisbauer seine Fallstudie »Subsidiarität und persistente Familienarmut« (169–228) zu einem im Jahr 2015 entstandenen bildungsorientierten Hilfsprojekt mit Roma-Kindern aus Armutshaushalten in Rumänien. Das Subsidiaritätsversagen ist in diesem Kontext von Kinder- und Bildungsarmut bedrückend, wie etwa das abschließende Narrativ in Gaisbauers Epilog (227 f.) in einer zu Herzen gehenden Weise zeigt. Er greift zurück auf die von Sedmak in systematischer Absicht entwickelten drei orientierenden Fragestellungen zum Subsidiaritätsbegriff und geht ihnen in seiner Fallstudie nach: 1. Hierarchiefrage: Welche Einheit ist die übergeordnete, zum Schutz und zum Eingriff für welche niedere Einheit berufene? 2. Ordnungsfrage: Was sind die Konturen der sozialen Ordnung(en), deren Funktionieren infrage steht? 3. Grenzfrage: Wann kippt die normative Forderung nach Respekt vor Eigenständigkeit in Unterstützungspflicht? (vgl. 169) Gaisbauer gelangt zu der These: »Fundamentale Armut stellt als relationales Phänomen der existentiellen Ausgrenzung eine radikale Anfrage an die gegebene Gesellschaftsordnung und somit auch an das Subsidiaritätsprinzip dar« (170 f.).
Zu den Stärken des Bandes gehört die geglückte Vernetzung der drei Studien, die wechselseitig immer wieder aufeinander Bezug nehmen. Sie ergänzen sich zudem sehr gut. Ein hohes Maß an Interdisziplinarität prägt sich hier aus. Leider fehlt ein Begriffsregister, das diesen Eindruck sicherlich noch verstärkt hätte. Der Band macht in inhaltlicher Hinsicht sowohl die Schwierigkeiten als auch die Chancen einer Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips im Zusammenhang der weiteren Prinzipien römisch-katholischer Soziallehre transparent. Dabei zeigt sich in der Tat, »dass die Subsidiarität nicht nur eine gesellschaftspolitische Kategorie ist, sondern wahrhaft eines aus den ganz wenigen Prinzipien, die die So-z ialstruktur und dadurch zumindest einen Teil des Wesens des Menschen zu erklären vermögen« (7). Zweifellos verdient dieses tragende Prinzip menschlichen Zusammenlebens über seinen konfessionellen Entstehungskontext hinaus verstärkte ökumenische Aufmerksamkeit und Anerkennung.