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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

357–360

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Lundberg, Mattias, Schildt, Maria, and Jonas Lundblad [Eds.]

Titel/Untertitel:

Lutheran Music Culture. Ideals and Practices.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2021. VII, 325 S. m. Abb. u. Tab. = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 142. Geb. EUR 82,95. ISBN 9783110680607.

Rezensent:

Johannes Schilling

Deutschsprachige und englischsprachige Forschung laufen in weiten Bereichen inzwischen nebeneinander her. Insbesondere der Rückgang der Deutschkenntnisse hat dazu geführt, dass Forschungsbeiträge in deutscher Sprache in der englischsprachigen Welt nicht oder kaum mehr wahrgenommen werden. Manche deutschsprachigen Autoren haben sich daher darauf eingestellt, ihre Beiträge gleich in englischer Sprache zu veröffentlichen, damit sie breiter wahrgenommen werden können. Der vorliegende Band lässt jedenfalls erkennen, dass seine Autoren Forschungen in deutscher Sprache nicht oder nur selektiv und nicht einmal grundlegende Quellenwerke wie Melanchthons Briefwechsel zur Kenntnis genommen haben.
Der Band versammelt 14 Beiträge, überwiegend von amerikanischen und skandinavischen Autoren; hinzu kommen drei Appendizes mit Übersetzungen von Texten zur Musik und ein Namenregister. Ich konzentriere mich im Folgenden – auch wenn das dem Inhalt des Bandes nur teilweise entspricht – auf die Luther selbst und die Reformationszeit betreffenden Beiträge.
Eröffnet wird der Band mit einem Text und Probleme erhellenden, systematisch konzentrierten Beitrag von Dietrich Korsch über Luthers Vorrede zu den Symphoniae iucundae Georg Rhaus von 1538: »The Word of God and Music in Luther: Re-Reading Luther’s 1538 Rhau Preface« (21–33). Er bietet zunächst »a close reading« der Vorrede, sodann systematische Aspekte eines Konzepts von Musik, danach ein Kapitel »From Music to the Word of God« und endet mit einigen Sätzen über »The Relation Between Music and the Word of God«. Ausgehend von Luther entwickelt er plausible Analogien zwischen Musik und dem Wort Gottes – ein vorzügliches Entrée für die nachfolgenden Beiträge.
Eyolf Ostrem, »›Musicam semper amavi‹: What is Remarkable about Luther’s Views on Music?« (35–46) betont, Luther habe Musik wirklich geliebt, während Bugenhagen hier nach der Vorrede zu den Responsorien des Resinarius skeptisch gegenübergestanden habe. In WA.TR 1 Nr. 816 erkennt er einen Beleg für Luthers Kenntnis von Musiktheorie und -praxis.
Robin A. Leaver, der bereits mehrere einschlägige Bücher zum Thema vorgelegt hat, fragt: »Did the Choir introduce German hymns to the Wittenberg congregations?« (47–67). Von besonderem Interesse sind seine Erwägungen über das »Enchyridion geistlicher gesenge vnd psalmen fur die leyen …« (so der korrekte Titel; VD 16 E 1148) aus dem Jahr 1526. Denn er vermutet, es habe ein solches Gesangbuch für die Gemeinde schon 1524 in Wittenberg gegeben, womöglich sogar noch vor Johann Walters Chorgesangbuch – eine erwägenswerte Überlegung, die im Falle einer Bestätigung nicht ohne Konsequenzen für die Rolle und Bedeutung des Gemeindegesangs in Wittenberg in der frühen Reformation wäre. Bedenkenswert ist auch seine Vermutung, nach Abschaffung der (mit Figuralmusik gefeierten) Messen habe Walters Chorgesangbuch so etwas wie einen evangelischen Ersatz dargestellt. – Von »Eyn geystlich gesang …« (61, Anm. 37) gibt es neben der Ausgabe von 1530 (VD 16 L 4775) schon eine von 1526 (VD 16 L 4474), die Leaver nicht erwähnt.
Maria Schildts Aufsatz »Johann Reusch’s Zehen deudscher Psalm Davids (1551) and the circulation of German Psalm Motets in Northern Europe« (81–113) ist, trotz erbärmlicher Fehler in den Zitaten und übler Worttrennungen, ein Gewinn: Er umreißt Reuschs Werk, weist auf bisher unbekannte Kompositionen aus Anlass von Melanchthons Tod hin, berichtet von Musikalien in der deutschen Gemeinde St. Gertrud in Stockholm und vom Schicksal der Musikalien des Mainzer Vikars Franz Schilling (sie wurden, mit anderen, 1631 von Schweden geraubt) und kommt zu dem Schluss, dass gedruckte Musikalien über ihren begrenzten Entstehungskontext und -zeitraum hinaus einen bemerkenswerten Beitrag zur lutherischen Musikkultur in Nordeuropa darstellten. – Eigenartigerweise ist ihr das vollständige Exemplar des Werkes in der Zentralbibliothek Zürich unbekannt geblieben (es fehlt auch in Helmut Claus’ Melanchthonbibliographie 1552.72), und unter der Literatur in Anm. 18 fehlt Christopher Spehr, Musik – Herzschlag der Seele. Melanchthons Vorrede zu den »Selectae harmoniae« von 1538, in: Luther 83 (2012), 2–7.
Joyce L. Irwin, »Luther, Mattheson, and the Joy of Music« (115– 134) handelt, in Aufnahme der Sekundärliteratur, von »Freude« in der Musik bei Luther: »frölich«-Sein komme nach ihm aus der Erfahrung der Vergebung. Sodann gibt er einen Überblick über Johann Matthesons musiktheologische Abhandlung »Die neuangelegte Freuden-Akademie …« (Hamburg 1751–1753) und endet mit einem Zitat: »Hätte der gute Luther unsre heutigen Senffels ge­kannt, wie würde er sich gefreut haben!« (132, Anm. 67) – Von Matthesons »Behauptung der himmlischen Musik aus den Gründen der Vernunft, Kirchen-Lehre und heiligen Schrift«, einem bemerkenswerten musiktheologischen Traktat, gibt es eine Neuausgabe: im Neusatz herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Holger Böning und Esther-Beate Körber, Bremen 2021 (ISBN 9783948077174).
Außerdem enthält der Band die folgenden mehr oder weniger umfangreichen und lesenswerten Beiträge: Grantley McDonald, »Liturgical Foundations from the Court of Maximilian I and the Hope of Salvation« (69–80); Ruth Tatlow, »Reading Belief through Compositional Unity: J. S. Bach’s Response to a Lutheran Theology of Proportions« (135–158); Pieter Dirksen, »J. S. Bach, the Fuga Contraria, and the Lutheran Concept of Umkehr« (159–182); Mattias Lundberg, »›Defenders of music‹ as a Topos of collective self-fashioning in Lutheran writ-ings from early modern Sweden« (183–198); Michaela G. Grochulski, »Luther in Felix Mendelssohn Bartholdy’s Hymn of Praise« (199–238) – ein interessanter Beitrag über dessen »Lobgesang« op. 52 in seinem historischen Kontext; Jonas Lundblad, »The ›Lutheran Style‹: Aesthetics, Theology and Politics in Oskar Söhngen’s writings« (239–282) – eine breite Darstellung dieses außerordent-lich einflussreichen Vertreters »lutherischer Musikkultur«; Chiara Bertoglio, »Beyond ›Church-dividing‹ differences: Music and new Ecumencial Perspectives on Justification« (283–302) – ein Plädoyer aus katholischer Perspektive für die Bedeutung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre im Hinblick auf die Musik und eine »ökumenische« Musikkultur.
In seinem abschließenden Beitrag »Lutheran Music Culture – A Re­flection« (303–306) weist John Butt auf Folgen und Bedeutung von Luthers Musikverständnis hin: für das Hören, für die Selbstwahrnehmung des Subjekts in der Moderne, für die Entwicklung hin zur absoluten Musik, für das Chorwesen und für die menschliche Kultur überhaupt.
Appendix 1 »Martin Luther’s 1538 draft on the Encomion Musices« (307–310) präsentiert einen vermeintlich unveröffentlichten Luthertext. Aber wo sollte ein solcher 1575 herkommen? Es muss sich um einen Werbegag des Verlegers handeln, eine von wem auch immer herrührende verkürzte deutsche Version der Vorrede zu den Symphoniae iucundae, die in einer Sammlung von Wolfgang Figulus als »ante non impressa« angepriesen wird. Die hier gebotene Titelaufnahme (recte: Cantionum …) sowie der lateinische Text sind un­zuverlässig; korrekt findet er sich im Stimmbuch des Tenor I der Sammlung (vorhanden in München, Bayerische Staatsbibliothek, 4o Mus. pr. 116, Tenor Primus, Bl. Aiijr – A 4v).
Appendix 2 bietet eine englische Übersetzung von Johannes Bugenhagens Vorrede zu Balthasar Resinarius, Responsorium numero octoginta de tempore, 1544 (311–316). Das Original (VD 16 R 1178) ist online zugänglich; eine Vorlage für den lateinischen Text, der durch sinnlose »/« gestört ist, wird nicht benannt. Ich habe denselben Text soeben mit einer deutschen Übersetzung herausgegeben: Johannes Bugenhagens Vorrede zu den Responsorien des Balthasar Resinarius, in: »Music is different« – isn’t it? Bedeutungen und Bedingungen musikalischer Autonomie. Festschrift für Siegfried Oechsle zum 65. Geburtstag. Hgg. von Kathrin Kirsch und Alexander Lotzow, Kassel u. a. 2021 (Kieler Schriften zur Musikwissenschaft LVII), 87–102.
Appendix 3 »Preface by Philipp Melanchthon to Johann Reusch: Zehen deudscher Psalm Davis, 1551« (317–320). Das einzige vollständig erhaltene Exemplar dieses Musikdrucks befindet sich in der Zentralbibliothek Zürich (Mus 983) und ist nicht digitalisiert. Nach dem Stockholmer Exemplar des Tenor ist der Text (besser) ediert und annotiert in Melanchthons Briefwechsel T 21, 2020, 349–351 Nr. 6219.
Das Staatliche Archivlager in Göttingen (107) gibt es seit Jahrzehnten nicht mehr, und einen Verlag »Springer Fachmedien« (ebd.) gab es 1909 in Leipzig noch nicht – Wustmanns Musikgeschichte Leipzigs ist vielmehr bei B. G. Teubner erschienen, einem seinerzeit renommierten Verlagshaus. – Das Namen-register enthält historische Personen und solche von Forschern, ohne typo-graphische Unterscheidung.
Das Buch ist Dutzendware aus einem großen Medienhaus; Buchästhetik und mit ihr verbunden Lesefreundlichkeit spielen da keine Rolle mehr. Das für das Englische eingerichtete Trennungsprogramm bringt schauderhafte Entstellungen hervor (Re-usch; Mel-anchthon’s; au-ferweckt, kath-olisch usw.; von den lateinischen Texten – Dom-inum, Luther-um u. a. – nicht zu reden), aber wenn nur die Informationen korrekt sind, scheint das inzwischen egal. Der Umgang mancher Autoren mit deutschsprachigen Zitaten und Literaturangaben ist nachlässig bis ärgerlich. Die Autoren und Drucker, von denen in diesem Buch gehandelt wird, haben sich dagegen bemüht, korrekte Texte und ansehnliche Druckwerke hervorzubringen.