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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

343–345

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Kampmann, Claudia

Titel/Untertitel:

Adolf Harnack zur »Frauenfrage«. Eine kirchengeschichtliche Studie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 687 S. = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 49. Geb. EUR 98,00. ISBN 9783374053957.

Rezensent:

Christian Nottmeier

Seit einigen Monaten wird nicht nur in Fachjournalen, sondern auch in den Feuilletons der großen Tageszeitungen eine intensive Debatte über die Modernität des Kaiserreichs geführt, ausgelöst durch Hedwig Richters Buch »Demokratie. Eine deutsche Affäre«. Massendemokratisierung, Entwicklung des modernen Sozialstaats sowie Partizipationsschübe machen in Richters – u. a. von E. Conze und H. A. Winkler angefochtener – Sichtweise die bleibenden Mo­dernitätsschübe der Zeit von 1871 bis 1918 aus. Insbesondere die Frauenbewegung ist in dieser Perspektive einer der Aufbrüche in die Moderne, die im Kaiserreich ihren Anfang genommen haben.
Vor diesem Hintergrund ist die 2018 erschienene Bonner kirchenhistorische Dissertation von Claudia Kampmann von besonderem Interesse. Denn in ihr wird mit Adolf Harnack einer der prominentesten und wissenschaftsorganisatorisch bestens vernetzten »gouvernementalen Gelehrtenpolitiker« (R. vom Bruch) des Kaiserreichs in seinem Engagement für die Frauenbildung und Frauenemanzipation dargestellt. Es geht also auch um die Reformperspektiven wie -möglichkeiten des Reiches von 1871. Vieles, was K. präsentiert, ist zwar der Sache nach bereits bekannt. Gleichwohl liegt hier wegen der gründlichen Quellenauswertung ein wichtiger Beitrag zu Harnacks gelehrtenpolitischem Agieren in einer der zentralen und wirkmächtigsten Reformfragen der wilhelminischen Zeit vor.
Zunächst stellt K. nach einem kurzen Forschungsüberblick (15–30) im ersten Kapitel Harnacks »soziokulturelles und politisches Umfeld« dar (31–112). Hier wird viel Bekanntes noch einmal aufgeführt. Wichtig sind aber die Hinweise auf die zunächst kursorischen Kontakte zu Vertreterinnen der verschiedenen Flügel der Frauenbewegung sowie auf die Töchter Anna Frucht, Agnes von Zahn-Harnack und Elisabet Harnack. Insbesondere Agnes und Elisabet sollten später in der bürgerlichen Frauenbewegung bzw. im sozialpolitischen Bereich wichtige Rollen spielen und waren schon biographisch vermutlich bedeutende Anregerinnen für Harnacks in der Intensität ungewöhnliches Interesse. Agnes konnte sich 1908 als erste Frau an der Berliner Universität ordentlich immatrikulieren und profitierte so von den Reformbemühungen ihres Vaters (74).
Ein zweites Kapitel widmet sich Harnacks Engagement zur Frauenfrage im Evangelisch-sozialen Kongress (113–243), dem er seit 1902 als Präsident vorstand. Schon in den 1890er Jahren tritt er hier etwa für das Rederecht der Frauen ein und weist 1895 in einem Redebeitrag darauf hin, dass »die kleinen Leute von geringem Stande und die Frauen besserer Stände« bereits in der Zeit der Alten Kirche die Kirche mitaufgebaut« hätten (145). In seiner Zeit als Präsident trug er zudem dafür Sorge, »eine turnusmäßige Behandlung der Frauenfrage in der Generalversammlung des ESK zu etablieren und sie als soziale Frage einzuordnen« (240).
Harnacks Engagement im ESK war – das hätte K. deutlicher betonen können – eine inhaltliche Flankierung seines gelehrtenpolitischen Engagements für die Mädchenschulreform, die eines der zentralen bildungspolitischen Projekte Harnacks nach 1900 wurde. Dieses Projekt, mit dem Harnack sich an führender Stelle für eines der »zentralen Anliegen der bürgerlichen Frauenbewegung einsetzte, das zudem zu einem erfolgreichen Abschluss ge­langte«, wird von K. zu Recht ausführlich und quellennah im dritten Teil dargestellt (245–449). Zusammen mit dem folgenden vierten Kapitel über Harnacks Haltung zum Frauenstudium sowie seine eigenen Schülerinnen (451–511, darunter u. a. Gertrud Bäumer, Adelheid Mommsen und später Elisabeth Schmitz) liegt mit diesen Abschnitte das eigentliche Kernstück der Arbeit vor. K. schöpft hier aus den Quellen, insbesondere aus ihrer Kenntnis des Briefwechsels Harnacks mit dem einflussreichen preußischen Wissenschaftsbeamten Friedrich Althoff, an dessen Edition sie gemeinsam mit Wolfram Kinzig arbeitet. Auch wenn die Grundlinien des Engagements Harnacks gleichfalls bekannt sind, kann sie überzeugend zeigen, mit welchem Geschick er das Projekt der Mädchenschulreform im Zusammenspiel mit Althoff vorantrieb. Be­sondere Bedeutung kam hier dem Kontakt mit der Frauenrecht-lerin Marie Martin zu, auf deren Expertise Harnack wiederholt zurückgriff und deren »halb offiziöse Tätigkeit in der Mädchenschulsache« (so Harnack 1907 an Althoff, 367) er gegenüber dem Ministerium flankierte. Auch nach Abschluss der Reform sicherte er deren Umsetzung durch seine Mitwirkung als stellvertretender Vorsitztender des »Zentralverbandes zur Durchführung der Mädchenschulreform« ab – ein Amt, von dem er 1910 aus Zeitmangel zurücktrat (420–437). Freilich zeigt dieses Projekt auch, dass Harnacks Einfluss in der Ministerialbürokratie mit Blick auf die Bildungs- und Unterrichtsfragen eng mit dem Wirken Althoffs verknüpft war. Mit dessen Ableben 1908 verlagerte sich auch hier der Schwerpunkt des Engagements Harnacks auf die Fragen der Forschungsförderung und Wissenschaftsorganisation, das schließlich in die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft einmündete.
Ein fünftes Kapitel widmet sich Harnacks »kirchenhistorische[r] Frauenforschung« (513–528). Hier werden u. a. Harnacks Arbeiten zur Paulusmitarbeitern Priszilla und die Darlegungen in der Missionsgeschichte von 1904 behandelt. Besonders hervorzuheben ist ein unveröffentlichter Vortrag Harnacks aus dem Jahr 1905 »Über einige Frauengestalten in der Alten Kirche«, der im Anhang des Buches auch abgedruckt ist (549–556). Hier begründete Harnack seine auch historisch gesättigte Offenheit für ein weitergehendes Engagement von Frauen in der Kirche, die gerade am Beginn ihrer Geschichte eine deutlich hervorgehobenere Rolle der Frauen ge­kannt habe. Wie dies in der jeweiligen Zeit zu geschehen habe, sei nicht »ein für alle Mal durch ein imperatorisches Wort festgelegt« (556), zweifellos eine Anspielung auf das, so Harnack, »unmutige Wort des Apostels Paulus« in 1Kor 14,34 (549). Vielmehr gelte: »In unserer Zeit, wo die Frauen freiwillig oder gezwungen ganz anders w ie früher in das öffentliche Leben hinaus müssen, steht sicher auch dem nichts entgegen, daß sie in ganz anderer Weise auch noch am Gemeinde- und kirchlichen Leben teilnehmen sollen, und dass das wünschenswert ist« (556).
Zu Recht bemerkt K., dass für Harnack als Historiker und Theologe die eigene »historische Frauenforschung den genuinen Ort« bot, um eine »theologische Antwort auf die Frauenfrage zu entwickeln« (528). Ebenso richtig ist, dass seine theologischen Prämissen in den verschiedenen Aspekten seines Wirkens immer wieder auftauchten (529 ff.). Bei allen traditionellen Frauenbildern, an denen Harnack festhielt, muss man mit K. seinem Engagement eine Vielzahl an »sukzessiven Neuerungen« (545) zuschreiben.
Insgesamt ist K.s Arbeit eine solide, aus den Quellen gearbeitete Studie, die ein exemplarisches Feld der Verbindung von liberaltheologischer Programmatik Harnacks mit einer wichtigen gesellschaftspolitischen Frage seiner Zeit aufzeigt. Sie belegt nicht nur Harnacks eigene Maxime, dass man die Welt nur insofern kennenlerne, als man auf sie wirke. Sondern sie zeigt ebenso die weitreichenden Reformmöglichkeiten, aber auch ihre Grenzen in Politik und Gesellschaft des Kaiserreiches auf und verdeutlicht Harnacks Anteil an diesem »Aufbruch in die Moderne« (H. Richter).