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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

337–341

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Hermle, Siegfried, u. Harry Oelke[Hgg.]

Titel/Untertitel:

Kirchliche Zeitgeschichte_evangelisch. Bd. 2: Protestantismus und Nationalsozialismus (1933–1945).

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020. 241 S. = Christentum und Zeitgeschichte, 7. Kart. EUR 22,00. ISBN 9783374066629.

Rezensent:

Roland M. Lehmann

Eine Gesamtschau über kirchenhistorische Epochen im Taschenbuchformat auf etwa 250 Buchseiten zu geben, ist kein leichtes Unterfangen. Geht man zu sehr ins Detail, verliert man die großen Linien. Verzichtet man auf harte Fakten, bleibt die Darstellung unkonkret. Dieser Herausforderung, die Mitte zwischen Abstraktion und Konkretion zu halten, stellen sich Siegfried Hermle und Harry Oelke als Herausgeber in ihrem vierbändigen Projekt »Kirchliche Zeitgeschichte–evangelisch«. Zusammen mit ausgewiesenen Expertinnen und Experten haben sie bereits die ersten drei Bände verfasst, die den Protestantismus in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit (1945–1961) darlegen. Folgen wird noch ein vierter Band über Westdeutschland ab dem Mauerbau. Ein fünfter Band über die DDR ist nicht geplant, wäre aber wünschenswert.
Das Besondere an den Bänden sind die Möglichkeiten ihrer Nutzung. In jedem Band sind die zehn ausgewählten Themen gleich. Jedes Kapitel ist in sich abgeschlossen und kann einzeln gelesen werden. Alle Kapitel in einem Einzelband bilden einen zusammenhängenden Gesamtüberblick der jeweiligen Epoche. Man kann aber auch die jeweils entsprechenden Kapitel eines jeden Bandes hintereinander lesen und erhält so einen epochenübergreifenden Längsschnitt zu einem bestimmten Thema.
In dieser Rezension geht es um den zweiten Band über den Protestantismus im Nationalsozialismus, wobei zum Schluss durch Heranziehung des ersten und dritten Bandes überprüft werden soll, ob das Versprechen, die Bände verschieden verwenden zu können, bis dato eingehalten wurde.
Harry Oelke eröffnet den Band mit einer strukturierten und systematischen Verhältnisbestimmung zwischen Protestantismus und Nationalsozialismus. In gewisser Weise ist dieses Kapitel das Herzstück der Darstellung, da die von ihm skizzierten Themen in den folgenden Kapiteln vertieft werden. Die evangelische Kirche war ein vielschichtiges Gebilde, bestehend aus 28 Landeskirchen, das in drei konfessionelle Lager gespalten war. Nach der Machtübernahme Hitlers 1933 zersplitterten sich die Evangelischen in die regierungskonformen Deutschen Christen (DC), die Bekennende Kirche (BK) und die quantitativ überwiegenden »Neutralen«. Die in­nere Mission suchte die Nähe zur BK, ohne die DC vor den Kopf stoßen zu wollen. Die Diakonie distanzierte sich erst spät von den eugenischen Regierungsmaßnahmen der Zwangssterilisation und der Krankenmorde. Gegen die sukzessive Abwertung des Religionsunterrichts ab 1937 setzte die BK auf Konfessionsschulen. Als ab Kriegsbeginn der Religionsunterricht völlig aus den Schulen verbannt wurde, versuchte man die außerschulische Christenlehre zu stärken. Auf europäischer Ebene setzten sich die reformierten Kirchen mit den deutschen Besatzungsmächten in Frankreich und den Niederlanden auseinander. England war durch einzelne exilierte Theologen wie Dietrich Bonhoeffer enger mit der BK verbunden. Der im Aufbau begriffene Ökumenische Rat der Kirchen in Genf pflegte zwar intensive Kontakte mit Vertretern der BK, verhielt sich aber gegenüber der NS-Regierung zurückhaltend. Orga nisierte protestantische Widerstandsgruppen gab es neben den Beteiligten am Attentat auf Hitler im April 1944 lediglich vereinzelt, so beispielsweise der Kreisauer und Freiburger Kreis.
Über die Kirchenpolitik des Nationalsozialismus informiert Claudia Lepp. Wie auch in den anderen Kapiteln wird dabei die Entwicklung in drei Phasen beschrieben: Die erste Phase ist von der Doppelstrategie Hitlers ab 1933 geprägt, die Gleichschaltungspolitik auch auf kirchlicher Ebene konsequent voranzutreiben, jedoch offiziell um Vertrauen bei der Kirchenleitung zu werben. Die zweite Phase kennzeichnet die ab 1935 von Hitler verfolgte Entkonfessionalisierungspolitik der gesamten Öffentlichkeit, verbunden mit einer Überhöhung des Nationalsozialismus zu einer quasireligiösen Weltanschauung. Die dritte Phase markiert den mit Kriegsbeginn 1939 durch Hitler ausgerufenen »Burgfrieden«, obwohl es dennoch zu weiteren Restriktionsmaßnahmen kam, wie die Um­wandlung der kirchlichen in staatliche Schulen, die Auflösung von christlichen Kindergärten und die Stilllegung der Kirchenpresse (49).
Über die gesellschaftlichen Herausforderungen für die Kirchen referiert Gisa Bauer. Sie bestehen für die damaligen Christen im Bestreben des Nationalsozialismus, als »politische Religion« zu agieren, ideologisch gekennzeichnet durch die Immanentisierung des Göttlichen (Hitler als »Messias«) und die Divinisierung des Diesseits (arische Rasse als »auserwähltes Volk«) (59). Widerstand formierte sich nur in wenigen Oppositionsgruppen: Der Kreisauer Kreis erörterte zwar nicht die Frage des »Tyrannenmordes« (65), aber diskutierte die Neuordnung des Staates nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus. Der Freiburger Kreis legte wiederum das Augenmerk auf die wirtschaftliche Neuordnung Deutschlands. Der von Hanna Solf initiierte »Solf-Kreis« beförderte den Zusammenhalt von Regimekritikern. Der »Anna-von-Gierke- Kreis« hielt Kontakte zu zahlreichen Frauenrechtlerinnen. Konkrete Umsturzpläne ab 1941 wurden durch Netzwerke unter Beteiligung von Carl Friedrich Goerdeler, Jakob Kaiser, Wilhelm Leuschner und Hans von Dohnanyi geschmiedet.
Karl-Heinz Fix evaluiert den rechtlich-organisatorischen Rahmen der Landeskirchen. Hierzu bietet er eine Aufzählung der Landeskirchen, liefert Statistiken zur Mitgliederentwicklung und Kirchlichkeit, referiert über die Entwicklung des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes (DEK) und geht auf das Wirken der konfessionellen Zusammenschlüsse (Deutsche Lutherische Bischofskonferenz und Reformierter Bund für Deutschland) ein.
Die protestantischen Milieus und Gruppen evaluiert Thomas Martin Schneider. Hierzu beschreibt er Wurzeln, Entwicklung und Niedergang der einzelnen Strömungen. Neben der »deutsch-christlichen Bewegung«, der BK und der überwiegend schweigenden kirchlichen »Mitte« berücksichtigt Schneider auch die neopaganen und freireligiösen »Deutschgläubigen Gruppierungen«, die Evangelische Jugend, die Evangelischen Frauenverbände und die verschwindend geringen politischen Widerstandsgruppen, wie beispielsweise das »Büro Pfarrer Grüber«, eine Organisation, die »rassisch« verfolgten evangelischen Christen die Auswanderung aus dem NS-Staat ermöglichte.
Alf Christophersen kennzeichnet die »Theologische Signatur« der Epoche. Anhand Martin Heideggers »Freiburger Rektoratsrede« vom 27. Mai 1933 stellt er exemplarisch die pathetische Überhöhung des deutschen Volksgeistes heraus (118 f.). Kritisch hierzu wendete sich Rudolf Bultmann mit seiner Suche nach dem exis-tentiell relevanten Kerygma im Mythos. Seinen 1941 veröffentlichten Vortrag »Neues Testament und Mythos« liest Christophersen auch als Abgrenzung von Alfred Rosenbergs radikal-antisemitischer Schrift »Der Mythus des 20. Jahrhunderts«, die den neuen Mittelpunkt der Gesellschaft in der deutschen Volksseele propagierte. Als Deutungsexperte der DC avancierte Emanuel Hirsch in seiner Schrift »Das kirchliche Wollen der Deutschen Christen« von 1933. Dort rekurriert Hirsch wie auch andere Theologen auf den »Volksnomos-Gedanken«. Christophersen zufolge rückte Hirsch damit die Volkssittlichkeit ganz in den Mittelpunkt seiner politischen Theologie und positionierte sich in die Nähe von Wilhelm Stapel, der in seinem 1932 erschienenen Hauptwerk »Der christliche Staatsmann« den Versuch wagte, eine Theologie des Nationalismus zu erschaffen. Kritisch zu diesen Versuchen, das NS-Regime mit einer christlich-kirchlichen Weihe auszuzeichnen, stellte sich Karl Barth, indem er die Offenbarungslehre ganz auf Christus konzentrierte. Ein ganz eigenes Denken bildete Paul Tillich aus. In seiner Schrift »Die sozialistische Entscheidung« vom Januar 1933 spitzte er die Summe des Religiösen Sozialismus programmatisch zu (134). Völkisch-nationales Gedankengut nicht völlig ablehnend forderte er einen staatlichen Umbau in Allianz mit dem linken Flügel der NSDAP um Georg Strasser. Erst als seine eigene Situation zusehends bedrohlicher wurde und er schließlich 1933 nach New York exilierte, wandte er sich 1934 im offenen Brief »Die Theologie des Kairos und die gegenwärtige geistige Lage« konsequent gegen die Trägerschichten des »Dritten Reiches«.
Über Bildung und Kultur unterrichten Antje Roggenkamp und Maike Schult. Die kirchlichen Kindergärten gerieten zunehmend unter administrativen Druck der Nationalsozialisten, der Religionsunterricht an den Schulen wurde gestrichen, Konfessionsschulen entmachtet, Universitäten ideologisch gleichgeschaltet und kirchliche Hochschulen verboten. Die Künste wurden konsequent zu Funktionsträgern des Staates umgestaltet. Bücherverbrennungen, das Aufstellen von »Schwarzen Listen«, die Kontrolle des Pressewesens, die »geistige Mobilmachung« durch den »Volksempfänger« (»Goebbels-Schnauze«) sowie die Produktion von Hetzfilmen (»Jud Süß«) dienten der NS-»Kunstdiktatur« (152).
Die Rubrik »Ökumene« wird von Andreas Müller dargelegt. Die Weltmissionskonferenzen, die Konferenz für Praktisches Christentum (Life and Work) und die Konferenz für Glauben und Kirchenverfassung (Faith and Order) bildeten die Plattform, um über die Gründung eines Ökumenischen Rates der Kirchen zu debattieren. Die internationalen Beziehungen stärkten die BK. Wichtige Mittelsmänner waren Dietrich Bonhoeffer, Eugen Gerstenmaier und Hanns Lilje. Die NS-Führung fasste zunehmend die Pflege ökumenischer Kontakte als »Landesverrat« (174) auf. Denn diese wurden vom »Büro Pfarrer Grüber« genutzt, um über 1700 Menschen die Ausreise zu ermöglichen.
Die Geschichte der »Diakonie« im Nationalsozialismus ist ein von Norbert Friedrich referiertes Thema. Zusammen mit der Caritas war die Diakonie der größte Spitzenverband der freien Wohlstandspflege in Deutschland. Ihren Kampf um »Selbstbehauptung« (181) führte sie gegen die innerkirchlichen Machtkämpfe und gegen die na-tionalsozialistische Wohlfahrtspolitik. Die Machtergreifung wurde zuerst ausdrücklich begrüßt. Später war man um politische Neutralität im Sinne eines »neutralistischen Lavierens zwischen den Fronten« (188) bemüht. Die konsequente Gleichschaltung gelang Hitler jedoch nicht, weil die Innere Mission zu polyzentrisch organisiert war. Zunehmende staatliche Unterdrückung erfolgte durch Kollektenverbote und durch die Aufhebung der Steuerfreiheit. Die Beihilfe zur Zwangssterilisierung und zur Eugenik bilden die beiden unrühmlichsten Seiten der Diakonie. Etwa 400.000 Opfer, darunter zahlreiche Heimbewohner, wurden zwangssterilisiert. Bis zum Ende des Krieges schätzt man ungefähr 140.000 ermordete Behinderte im Rahmen der »Aktion T4« (195), benannt nach dem Hauptquartier in der Berliner Tiergartenstraße 4. Die Diakonie half teilweise auch unwissend dabei mit, indem sie Meldebögen ausfüllte, wo­durch sie eine akribische Erfassung der Behinderten ermöglichte. Es gab lediglich vereinzeltes widerständiges Verhalten, beispielsweise von dem Lobetaler Anstaltsleiter Paul Gerhard Braune, der detaillierte Dokumentationen von NS-Morden und von Anstaltsleitern in Westfalen und im Rheinland anfertigte, die sich weigerten, die be­sagten Meldebögen auszufüllen.
Das Kapitel über »Christen und Juden« von Siegfried Hermle rundet das Gesamtbild ab. Hierzu durchläuft Hermle die verschiedenen Phasen der Judenverfolgung, beginnend mit den ersten Übergriffen auf Juden im März 1933, der Einführung des Arierparagraphen einen Monat später, den »Nürnberger Gesetzen« vom September 1935, der Reichspogromnacht im November 1938, der »Judensternverordnung« vom September 1941 und der Wannseekonferenz vom Januar 1942 mit der danach intensivierten Shoa. Auch innerhalb der BK überwogen bis auf wenige Ausnahmen die antijudaistischen und antisemitischen Vorbehalte. Geradezu grotesk war die Gründung des »Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das kirchliche Leben des deutschen Volkes« unter der Leitung von Walter Grundmann mit Sitz in Eisenach (214). Rückblickend bildet gerade die »Judenfrage« den Tiefpunkt des damaligen Protestantismus, der sich durch »Schweigen, unterlassene Hilfe und partielle Mittäterschaft« (219) schuldig gemacht hat.
Insgesamt bietet der Band eine überaus stringente und fundierte Gesamteinführung zum Protestantismus im Nationalsozialismus – sowohl für Studierende als auch für Dozierende. Die perspektivischen Schwerpunktsetzungen der einzelnen Kapitel sind sinnvoll gewählt und führen dazu, dass sich beim Lesenden ein konzises Gesamtbild zusammensetzt. Die besondere Leistung dieses Bandes besteht darin, sowohl den protestantisch geprägten »Mainstream« mit seiner Bejahung des Nationalsozialismus als auch die Ausnahmen widerständigen Verhaltens gebührend ins Verhältnis gebracht und dargestellt zu haben.
Allerdings wird der narrative Modus der Darstellung im Kapitel über »Kirchliche Ordnung und Strukturen« für meinen Geschmack etwas zu sehr verlassen. Die Präsentation von Statistiken ist auf der einen Seite zwar interessant, aber auf der anderen Seite kann das gebotene Material in diesem Rahmen gar nicht ausgeschöpft werden. Die bloße Aufzählung aller Landeskirchen bis zum Ende des Ersten Weltkrieges im Haupttext (74 f.) hätte man m. E. weglassen oder stattdessen konsequent in Form einer Karte darstellen können, gerade wenn auf S. 77 eine Karte mit einer weiteren Aufzählung aller Landeskirchen (Stand 1932) folgt.
Schaut man diesen mit den bislang erschienenen anderen Bänden zusammen, so geht das Konzept einer vielseitigen Nutzung sehr gut auf. Besonders die Längsschnitte durch Lektüre einzelner Kapitel in mehreren Bänden ergeben epochenübergreifend eine Vergleichbarkeit, die auch für die weitere zeitgeschichtliche Forschung Maßstäbe setzt. Sinnvoll wäre es m. E. gewesen, in jedem Band ein Übergangskapitel zu platzieren, das die harten Epochenschnitte etwas abmildert und die Vorgeschichte der einzelnen geschichtlichen Perioden noch einmal gesondert thematisiert. Diese lediglich darstellungstechnischen Erwägungen sind jedoch keine Kritik an den durchweg fundierten und sorgsam ausgewählten Inhalten. Vielmehr sollen sie zum weiteren Nachdenken anregen. Denn es wäre durchaus begrüßenswert, wenn man diese entwickelte Darstellungsform zum Vorbild für entsprechende Einführungen in andere Zeitalter der Christentumsgeschichte nehmen würde.