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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

327–329

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Schäufele, Wolf-Friedrich

Titel/Untertitel:

Kirchengeschichte II: Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 568 S. = Lehrwerk Evangelische Theologie, 4. Geb. EUR 48,00. ISBN 9783374054848.

Rezensent:

Hans-Martin Kirn

Wolf-Friedrich Schäufeles Lehrbuch setzt das auf zehn Bände angelegte »Lehrwerk Evangelische Theologie« mit dem zweiten Band zur Kirchengeschichte fort (Kirchengeschichte I soll 2023 erscheinen). Die Zielsetzung des Lehrwerks ist, wie in Erinnerung gerufen, die im Kompetenzjargon vorgetragene Vermittlung ge­genwarts- und praxisbezogenen Grundwissens für Studium und Examen (V–VI). Dem wird der Band, der aus kirchengeschichtlichen Überblicksvorlesungen erwuchs, ohne Zweifel gerecht. Zugleich bietet er eine solide Basis für das tiefere Studium der Kirchengeschichte.
Zeitlich erstreckt sich der Band vom Späten Mittelalter um 1300 bis in die 1980er Jahre. Die Möglichkeiten einer epochenübergreifenden Darstellung aus einer Hand werden unter anderem hinsichtlich der Profilierung der jeweiligen Übergänge und »grundlegenden Transformationen und Neukonfigurationen des Christentums« (XVII) gut genutzt. Auch in der neuen kompakten Form bleibt das traditionelle Gefüge aufeinander folgender epochaler Einheiten unangetastet. Deren konstruktiver Charakter wird deutlich vor Augen geführt. Die jeweiligen Themen werden unter den vorrangigen Aspekten »Kirche und Theologie« klar strukturiert, inhaltlich in aller Regel differenziert und zugleich lesefreundlich dargeboten. Jedem Kapitel sind einleitend hilfreiche Überblicke (in Kapitel 2 eine Einführung in die Reformation als Epoche) beigegeben. Dem aktuellen Forschungsstand wird innerhalb der Ausführungen hinreichend Rechnung getragen. Hinweise auf direkte Gegenwartsbezüge des behandelten Stoffes, elementare Worterklärungen und sogar Aussprachehilfen erhöhen den Gebrauchswert für Studierende, selbst wenn sie keine Vorlesung besuchen.
Der Band setzt bei Kirche und Theologie im Spätmittelalter mit seinen Krisen und Aufbrüchen ein (Kapitel 1). Einprägsam wird in die gängigen Schwerpunktthemen vom Niedergang des Papsttums im 14. Jh. über Spätscholastik, Mystik, Kirchenkritik, Reformkonzilien, Frömmigkeit und Frömmigkeitstheologie bis hin zu Renaissance und Humanismus eingeführt. Das zweite Kapitel präsentiert die Reformation im deutschsprachigen Raum von Luthers Werdegang und dem Ablassstreit bis zum Umbruchsjahr 1525. Hier wird mit einem Abschnitt zu den Grundzügen von Luthers Theologie eine Zäsur gesetzt. Weitere Abschnitte behandeln die Wittenberger Reformatoren neben Luther sowie die Schweizer und Oberdeutschen Reformatoren bis hin zum Ersten Abendmahlsstreit (1524–1536). Schließlich wechselt die Perspektive zur Reichspolitik mit der Ausbreitung der Reformation in den deutschen Territorien (1522–1544), den Ausgleichsversuchen in den Reichsreligionsgesprächen u nd der militärischen Eskalation (1536–1546).
Hier finden mit Luthers »Alter und Tod« neben seinen späteren Zeugnissen reifer reformatorischer Theologie wie der Großen Ge­nesisvorlesung schließlich auch die sogenannten Judenschriften ihren Platz. Dass die späteren, von exzessiver Polemik begleiteten Schriften nach Luthers Tod »weithin in Vergessenheit« geraten sein sollen, bevor sie von der nationalsozialistischen Propaganda wiederentdeckt wurden, dürfte freilich zu kurz greifen. Gerade die Spannung zwischen den emanzipatorischen Impulsen der frühen sogenannten Judenschrift von 1523 und der späteren vormodern-antisemitischen Agitation wirkte immer wieder auf den Streit um die Deutung bedingter Toleranz in der Judenpolitik lutherischer Obrigkeiten ein.
Das dritte Kapitel erschließt auf die bewährt übersichtliche Weise den westeuropäischen Raum (1520–1648), beginnend mit J. Calvin und der Genfer Reformation und weiterschreitend zu den Reformationen in Frankreich, den Niederlanden, England und Schottland. Das vierte Kapitel hat Kirche und Theologie im Konfessionellen Zeitalter zum Gegenstand. Die Reichsperspektive be­stimmt dessen Kernzeit vom Augsburger Religionsfrieden 1555 bis zum Westfälischen Frieden 1648. Der Überblick erläutert präzise die wichtigsten Leitbegriffe Konfessionsbildung, Konfessionalisierung und Konfessionskulturen. Die folgenden Abschnitte präsentieren den römischen Katholizismus, das Luthertum und das Re­formiertentum sowie den englischen Protestantismus. Das fünfte Kapitel behandelt das Zeitalter von Pietismus und Aufklärung, das zwischen Westfälischem Frieden und Französischer Revolution (1648–1789) angesetzt wird und den Weg vom Alt- in den Neuprotestantismus klar skizziert. Mit dem gewählten Eckdatum der Französischen Revolution lassen sich die Zeitläufte auf markante Weise übersichtlich halten, und das 19. Jh. kann als »Zeitalter der Revolutionen« wirklich »lang« werden, ohne damit andere reichs geschichtliche Perspektivierungen auszuschließen. Auch in die-sem Kapitel kommen alle wichtigen Themenkomplexe von Kirche und Theologie wie Erweckungsbewegung, Gemeinschafts- und Pfingstbewegung, Soziale Frage und Weltmission zur Sprache. Das Ende dieses Zeitalters wird nicht wie üblich mit dem Anfang des Ersten Weltkrieges 1914, sondern mit dem Jahr 1918 markiert, als die Monarchie in Deutschland an ihr Ende kam und, der hier entscheidende Punkt, dem landesherrlichen Kirchenregiment der Bo­den entzogen wurde.
Die Ausführungen zum »kurzen« 20. Jh. bieten unter Berücksichtigung der kirchlichen Zeitgeschichte einen gediegenen Einblick in die Geschichte der evangelischen und der katholischen Kirche von der Zwischenkriegszeit über die Zeit des Nationalsozia-lismus bis hin zur deutschen Wiedervereinigung. Besonders das Verhältnis der evangelischen Kirche zum Nationalsozialismus wird sorgfältig in drei Schritten nachgezeichnet. Mit einem Ab­schnitt zum »Christsein in der Ökumene« von den Anfängen im 19. Jh. bis zu den jüngeren Versuchen katholisch-protestantischer An­näherung wie der umstritten gebliebenen Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre von 1999 und einem Exkurs zu »einigen Grundlinien« der Geschichte der Ostkirchen in der Neuzeit schließt die Darstellung.
Der Exkurs zu den Ostkirchen, der »weit über das kirchengeschichtliche Grundwissen hinaus[führt]« (496) und naturgemäß nicht in das hantierte Epochenschema passt, hätte einen ausdrücklichen Verweis im Text auf die Behandlung des Themas in der von Ulrich H. J. Körtner verantworteten Ökumenischen Kirchenkunde (LETh 9, 2018, Kapitel 3) verdient. Für sich betrachtet mag man dies als Kleinigkeit ansehen, doch es geht hierbei um eine weiterreichende Frage. Verlag und Autorenschaft haben sich die Aufgabe gestellt, den Leserinnen und Lesern »die innere Einheit der Theologie und die bestehenden Zusammenhänge zwischen ihren Einzeldisziplinen […]« (V–VI), also den Aspekt der theologischen Enzyklopädie, im Lehrwerk deutlich zu machen. Davon ist, jedenfalls im besprochenen Band, nicht viel zu merken, von Verweisen des Vf.s auf eigene Veröffentlichungen abgesehen, welche zu Recht die Dringlichkeit der enzyklopädischen Fragestellung betonen (vgl. ThLZ 139 [2014], 831–850). Warum und wie die theologischen Einzeldisziplinen im Interesse der verhandelten Themen einander brauchen, um das zu sein, was sie nur zusammen sein können, nämlich Evangelische Theologie, bleibt unterbelichtet.
»Ein Wort zum Schluss« (500–504) bietet knappe Anregungen zum Nachdenken über die alte Frage, ob man aus der Geschichte lernen könne. Angesichts der Herausforderungen, welche schwächer werdende volkskirchliche Strukturen und nachlassende ge­sellschaftliche Relevanz für die bestehenden Landeskirchen mit sich bringen, wird an die beachtlichen Transformationsleistungen in der Geschichte der Kirchen erinnert, aber auch Mut gemacht zu »innovative[n] Lösungen« (504) im Blick auf künftiges Kirche-Sein. Innovationsfreude ist freilich auch von der Kirchengeschichte bei der Produktion und der Vermittlung ihres Grundwissens gefragt, gerade wenn sie den Glaubens- und Lebenswelten ihrer primären Zielgruppen in einer zunehmend global orientierten multireligiösen und multikulturellen Gesellschaft gerecht werden will.