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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

317–319

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bieringer, Reimund, Nathan, Emmanuel, Pollefeyt, Didier, and Peter J. Tomson [Eds.]

Titel/Untertitel:

Second Corinthians in the Perspective of Late Second Temple Judaism.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2014. X, 348 S. = Compendia Rerum Iudaicarum ad Novum Testamentum, 14. Geb. EUR 142,00. ISBN 9789004269286.

Rezensent:

Florian Wilk

Der Band dokumentiert ein Kolloquium an der Universität Leuven vom März 2009. Er enthält nach Inhaltsverzeichnis, Vorwort, biographischen Angaben und Einführung acht Beiträge, eine umfangreiche Bibliographie und diverse Register.
P. J. Tomson (1–10) stellt die Beiträge und das Programm des Buchs vor: Innerhalb der CRINT-Reihe soll es zeigen, wie Paulus seine Gedanken im 2Kor – bzw. in einzelnen Teilbriefen, aus denen er besteht – mit jüdischen Begriffen ausdrückt, und so die Konturen des paulinischen Judentums nachzeichnen.
R. Bieringer stützt die These der Einheitlichkeit des 2Kor mit einer Analyse des Gebrauchs der ἀγαπ-Terminologie (11–24). In allen Briefteilen gehe es, stärker als in anderen Paulusbriefen, darum, die Adressaten der Liebe des Apostels zu vergewissern und sie implizit zu ermuntern, ihn – im Rahmen des von Gott gegründeten Netzwerks der Liebe – ihrerseits zu lieben.
M. Goodmanns historische Studie zu Apg 18 (25–35) zeigt, wie problematisch der Protest des Juden Paulus gegen den Götzendienst in Korinth für die dort lebenden Juden war; er brachte ihre auch in den eher friedlichen 50er Jahren fragile, vom Wohlwollen der paganen Gesellschaft abhängige Lage ins Wanken.
J. Schwartz entwirft eine Methodologie, um Paulus in Relation zum Judentum seiner Zeit zu stellen (36–58). In dieser praxisorientierten Religion definiere jede Gruppe jüdische Identität auf eigene Weise – wobei Binnen- und Außensicht oft divergierten. Die Praxis früher Christen sei aus den Quellen schwer zu ermitteln; dem Tempel seien sie aber laut Apg verbunden – bei internen Differenzen und verschiedenen Urteilen von jüdischer Seite. Daher agiere Paulus mit seiner biblischen Theologie, seiner auch sprachlichen Orientierung am Tempel und seinem Drängen auf ein universales Judentum durchaus in einem jüdischen Rahmen.
F. Avemarie untersucht die Rede vom neuen Bund in 2Kor 3 in ihrem antik-jüdischen Kontext (59–78). Sie biete mit der Idee der Unkündbarkeit eines göttlichen Bundes den Rahmen, in dem Paulus seinen öffentlich sichtbaren Dienst durch den Aufweis einer Überbietung des strukturell ähnlichen Mosedienstes legitimieren könne. Dessen Glanz sei anders als der des Apostolats verschwunden; doch der alte Bund werde vom neuen, Geist und Leben vermittelnden Bund her gerade in seinem eigentlichen, verurteilenden Sinn enthüllt und insofern als gültig bekräftigt.
P. J. Tomson bestimmt das jüdische Profil von 2Kor 6,14–7,1 als Bestandteil des paulinischen Schrifttums (79–131). Der Ruf zur dualistisch begründeten Separation von »Ungläubigen« erinnere vor allem an diverse Qumrantexte, die Test XII und Schammai, die Integration von Frauen in die Gemeinde jedoch an die Rabbinen und die Jesusüberlieferung, die Kollage aus Schriftworten wiederum an 4QFlor. Mit alledem passe der Passus zur Eigenart der Paulusbriefe und lasse sich, als Polemik gegen jüdische Gegner gelesen, auch gut als Bestandteil des 2Kor begreifen.
Z. Safrai/P. J. Tomson erheben die historischen, kulturellen und sozialen Hintergründe zu 2Kor 8–9 (132–220). Paulus reagiere auf einen von judäisch-christlichen Gegnern in Korinth befeuerten Widerstand gegen eine Geldsammlung für die Gemeinde zu Jerusalem; dessen Basis seien dort entstandene Vorbehalte gegen seine Mission im Kontext des Aufkommens einer religiös-nationalen Stimmung mit wachsender Distanzierung von Nichtjuden im Judäa der späten 50er Jahre. Die Benennung jener Gemeinde als »die Heiligen« spiegele – anders als der frühe rabbinische Wortgebrauch – ein apokalyptisch-eschatologisches Selbstverständnis in der Linie von Dan und 1Hen wider. In der Tat dokumentiere die Sammlung die Anerkennung jener Heiligen als geistiger Leitungsfiguren und gründe auf einer Verknüpfung des Motivs der Wohltätigkeit mit einer Hochschätzung Jerusalems in ideeller, nicht aber praktischer Analogie zur Finanzierung des Tempels durch Abgaben. Sie bilde somit im Kontext des frühen Christentums und im Horizont rabbinischer Traditionen ein innovatives Sozialmodell. Hier wie dort gab es nämlich zunächst Widerstand gegen die materielle Unterstützung von Lehrergestalten, der zu Debatten über ihre Akzeptabilität angesichts des Wertes manueller Arbeit für den Lebensunterhalt und der Notwendigkeit der Armenfürsorge führte; erst allmählich seien daraus institutionalisierte Formen einer Entlohnung oder finanziellen Entlastung solcher Personen hervorgegangen.
C. Hezser stellt 2Kor 11,16–32 in den Kontext griechisch-römischer Rhetorik und des Wettstreits späterer Rabbinen um Gefolgschaft (221–244), um zu zeigen: Die Narrenrede des Paulus fungiere als subversive Entkräftung der von anderen jüdischen Christusmissionaren geschürten Bedenken der Korinther hinsichtlich seiner Eignung zum Apostel. Im Lichte des Christusgeschehens präsentiere er vermeintliche Mängel (fehlende Redekunst, erfahrenes Leid, demütigende Bestrafungen, Reisegefahren) unter Aufnahme biblisch-jüdischer Traditionen als Merkmale dessen, durch den Gottes Macht zur Geltung komme.
C. R. A. Morray-Jones interpretiert 2Kor 12,1–10 vor dem Hintergrund proto-rabbinischer Mystik (245–285). Auf der Basis traditionsgeschichtlicher Analysen ergäben sich markante Korrespondenzen mit der Geschichte vom Eintritt vier großer Gelehrter ins Paradies (gewalttätiger Engel, Hören unaussprechlicher Worte) und diversen Merkaba-Traditionen (Selbstpräsentation in 3. Person ohne Selbsterhöhung, in einer dienenden, aber autoritativen Rolle). Demnach rede Paulus in Entsprechung zu Apg 22,17–21 von seiner Vision des verherrlichten Christus im himmlischen Heiligtum als Grundlage seiner gemäß Röm 15,19 in Jerusalem anhebenden Völkermission. Sein Bericht im Rahmen von 2Kor 10–13 sei daher angesichts der Angaben in 12,2 und Gal 1,18; 2,1 ins Umfeld des Apostelkonvents zu datieren.
Die Band liefert erhellende Beiträge zur Wahrnehmung der jüdischen Traditionen, in deren Kontext der 2Kor entstanden ist, unterstreicht die Bedeutung, die dem rabbinischen Schrifttum dafür zukommt, und enthält interessante Impulse zur Interpretation des Briefs. Das eingangs skizzierte Konzept des Bandes wird allerdings nicht überall umgesetzt. Bisweilen wünscht man sich auch eine eingehendere Erörterung der exegetischen Fragen, die der 2Kor aufwirft – etwa nach der Zielrichtung der Polemik in 2Kor 6, dem Konnex von Kollektenappell und Unterhaltsverzicht des Paulus oder der rhetorischen Funktion des Visionsberichts im Kontext von 2Kor 11–12. Zudem kommt die Adressatenperspektive in der Behandlung des 2Kor zu kurz.
Die Gestaltung des Buches ist gelungen; Druckfehler enthält es kaum. Die Bibliographie weist indes im Vergleich mit den Fußnoten einige Lücken auf.
Dem Kreis der Herausgeber und Beiträgerinnen und Beiträger sei für wichtige Impulse zur Verortung des 2Kor im antiken Judentum gedankt.