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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

302–304

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Butts, Aaron Michael, and Simcha Gross [Eds.]

Titel/Untertitel:

Jews and Syriac Christians. Intersections across the First Millenium.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XII, 350 S. = Texts and Studies in Ancient Judaism, 180. Lw. EUR 149,00. ISBN 9783161591341.

Rezensent:

Harald Suermann

Das syrische Christentum entwickelte sich in einer Gegend, in der es eine jüdische Diaspora gab. Sowohl in Syrien als auch in Nord- und Zentralmesopotamien lebten Juden und Christen in Nachbarschaft und hatten eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame religiöse Weltsicht. Diese Gemeinsamkeiten sind eine Basis für einen möglichen Austausch zwischen den beiden Kommunitäten. In dem vorliegenden Sammelband werden Beiträge zur neuesten Forschung im Schnittgebiet zwischen Judentum und syrischen Christentum veröffentlicht. Die beiden Herausgeber stehen selber für die zwei Pole dieses Forschungsgebietes. Aaron Michael Butts ist Assistant Professor für semitische und ägyptische Sprachen und Literaturen an der Catholic University of America und spezialisiert in den Sprachen, Literaturen und Geschichte des Christentums im Nahen Osten. Er erhielt ein Humboldt-Forschungsstipendium für erfahrene Wissenschaftler. Zahlreiche Veröffentlichungen vor allem zum syrischen Christentum unterstreichen seine Expertise. Simcha Gross ist Assistant Professor und Spezialist für alte und frühmittelalterliche jüdische Geschichte mit dem Fokus auf kontextuelle Studien der Rabbiner und der rabbinischen Literatur in der persischen und islamischen Welt. Er ist Mitautor einer Übersetzung der syrischen Märtyrerakten mit einer ausführlichen Einführung.
Die beiden Autoren verweisen darauf, dass es in den letzten Jahren einen »Boom« von Veröffentlichungen im Schnittgebiet zwischen jüdischen und syrisch-christlichen Studien gegeben hat. Mit der Herausgabe dieses Sammelbandes erheben sie den Anspruch, den Stand der Fragestellung anzuzeigen und Wege für die künftige Forschung aufzuzeigen. Dabei werden traditionelle Sichtweisen über das Verhältnis von Judentum und syrischen Christentum infrage gestellt und ergänzt. Diese sind von der Annahme geprägt, dass sich das syrische Christentum aus dem örtlichen Judentum entwickelt hat und von ihm stark beeinflusst ist. Die umgekehrte Richtung, dass das syrische Christentum dieses Judentum beeinflusst hat, wurde nur selten in Betracht gezogen. Hinzu kommt, dass jüdische Quellen das syrische Christentum kaum explizit erwähnen, während es umgekehrt häufig vorkommt. Zudem wird angenommen, dass der Einfluss des Judentums auf das Christentum relativ früh beendet war.
In einer ausführlichen Einleitung stellen die beiden Autoren zunächst die These auf, dass die beiden Gemeinden und Gruppen erheblich durchlässiger waren, als allgemein angenommen und von den Eliten vorgegeben ward. Die überlieferten Texte lassen sich grundsätzlich in zwei Kategorien teilen: Die einen erwähnen den Anderen explizit und die anderen erwähnen ihn nicht explizit. Bei den jüdischen Texten, in denen der Andere nicht explizit erwähnt wird, wird vor allem versucht, die babylonischen Juden und den babylonischen Talmud in ihren Kontexten zu verstehen. Dabei wurde von einigen Wissenschaftlern auch in die zeitgenössischen Texte syrischer Christen geschaut. Forschungen in diesem Schnittgebiet werden von den Herausgebern als Syro-Talmudica bezeichnet. Die Forschung zeigte, dass syrisch-christliche Texte tatsächlich in bestimmten Fällen einen Schlüssel für das Verständnis des babylonischen Talmud bieten. Verschiedene Beiträge zeigen dies auf. Dazu gehört der von M. Bar-Ascher, der ein monastisches syrisches Motiv im babylonischen Talmud nachweist und eine rabbinische Figur in Analogie zu einem zeitgenössischen christlichen Heiligen versteht. G. Herman betrachtet den jüdischen Exilarchen auf dem Hintergrund des christlichen Katholikos in Bagdad, die das gleiche kulturelle Umfeld haben. Ähnlich verhlt es sich auch bei R. Kalmin und J. Rubenstein, die talmudische Episoden mit zeitgenössischen christlichen Texten vergleichen.
Laut den beiden Herausgebern ist aber der Vergleich der Reaktionen von Juden und Christen auf die gleichen gesellschaftlichen Herausforderungen im sasanidischen Kontext noch vielversprechender als die philologischen Untersuchungen. In dieser Forschung wird einerseits die These hinterfragt, dass syrische Christen jüdische Elemente »geerbt« haben und auf einen möglich stärkeren Einfluss der griechisch-römischen Kultur verwiesen. Ergebnis solcher Untersuchungen ist aber unter anderem auch, dass es jüdischen Einfluss auf die syrisch-christliche Gemeinschaft noch in späterer Zeit gab. Daraus wird der Vorschlag entwickelt, dass es sich lohnt, jüdische Texte heranzuziehen, um die syrischen christlichen Gemeinschaften besser in ihrem historischen, sozialen und kulturellen Kontext zu verstehen. Dieser Vergleich der Reaktionen auf die gleichen gesellschaftlichen Herausforderungen muss über das bloße Feststellen von Parallelen hinausgehen. So zeigen B. Belinitzky und Y. Paz in ihrem Beitrag, dass Aphrahat und der babylonische Talmud, aber auch Mandäer den gleichen Begriff für Exkommunikation aufgrund einer gleichen Weltsicht verwenden. Ihre Praktiken standen sich untereinander näher als im Vergleich die Praktiken der jeweiligen Glaubensgemeinschaft zu denen ihrer Glaubensgenossen im Westen. N. Koltum-Fromm vergleicht die syrische Schatzhöhle mit jüdischen Traditionen. S. Minov findet in zwei Geschichten von Ephräm und Jakob von Nisibis zahlreiches rabbinisches Material, vor allem aus dem babylonischen Talmud.
Die zweite Gruppe von Texten ist diejenige, in denen der andere ausdrücklich genannt wird. Die linguistische Wende hat ein naives historisches Verständnis dieser Texte obsolet gemacht. Schon lange wird in den syrischen Text-Studien darauf hingewiesen, dass in antijüdischer Literatur der Jude meist fiktiv ist und häufig für andere Gruppen, seien es Häretiker, seien es Muslime, steht. We-nige Texte aber beziehen sich auf einen real existierenden Juden. Die beiden Herausgeber fordern, dass die Kriterien für die Analyse dieser Texte weiterzuentwickeln sind. Zu den hierher gehörenden Beiträgen zählt der von Y. Moss, der dem Vorwurf des Jakob von Edessa nachgeht, dass die Juden Schriftfälschung betrieben haben, und die Antwort des Saadia Gaon analysiert. S. Cohen stellt die These auf, dass der Autor des Buches der Gesetze der Länder, Bardaisan zugeschrieben, jüdische Verbote aus der realen Begegnung mit Juden kennengelernt hat.
Die genannten und weitere Aufsätze, die nicht thematisch, sondern alphabetisch nach den Beiträgern geordnet sind, behandeln sehr unterschiedliche Themen im Schnittfeld von syrischem Christentum und Judentum. Sie zeigen alle auf, wie fruchtbringend die Forschungen in dem genannten Schnittgebiet sind. Es ist zu wünschen, dass diese Forschung, die nach den Herausgebern in den letzten Jahren einen Boom hat, intensiv weitergeführt wird.