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Ausgabe:

April/2022

Spalte:

300–302

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Bellmann, Simon

Titel/Untertitel:

Politische Theologie im frühen Judentum. Eine Analyse der fünf Versionen des Estherbuches.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2020. XIII, 386 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 525. Geb. EUR 99,95. ISBN 9783110674460.

Rezensent:

Veronika Bachmann

Zu Recht ist es heute in der Estherbuchforschung begründungsbedürftig geworden, sich allein der masoretischen Erzählvariante des Estherbuches (EstMT) zu widmen. Die weiteren antiken Erzählvarianten, zu denen neben der Septuagintafassung (EstLXX) auch der sogenannte Alpha-Text (EstAT) und die Vetus Latina (EstVL) gehören, fordern die vom jüdischen und christlich(-protestantisch)en Bibelkanon her generierte Sonderstellung von EstMT mehrfach heraus, einerseits textgeschichtlich, was der Fachdiskurs um eine womöglich früher als EstMT entstandene Erzählfassung bezeugt, die gewisse Exegetinnen und Exegeten durch EstAT, andere durch EstVL belegt sehen –, andererseits narrativ-theologisch. Letzteres hat vor allem in Bezug auf die Behandlung von EstLXX Folgen gezeitigt. Beschränkte man sich früher gerne auf die Interpretation der apokryphen bzw. deuterokanonischen »Zusätze«, so wird in der jüngeren Forschung der Blick auf die integrale Fassung immer selbstverständlicher.
Mit der Monographie von Simon Bellmann liegt eine leicht überarbeitete Fassung seiner im Fach Alte Geschichte eingereichten und durch das Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle an der Saale unterstützten Dissertation vor, die sich imposanterweise gleich fünf Erzählversionen der Esthergeschichte widmet. Neben den vier genannten Fassungen berücksichtigt sie auch die Nacherzählung der Estergeschichte in den Antiquitates Judaicae des Josephus (Ant 11,184–296 = EstJos). Bei seinem Blick auf die unterschiedlichen Estherversionen interessieren B. allerdings weniger die Erzählstrukturen und generelle theolo-g ische Stoßrichtungen, sondern vor allem deren Konzepte poli-tischer Theologie, die er vergleichend herausarbeitet. Politische Theologie definiert B. indirekt über einen Fragenkomplex, der verdeutlicht, dass es ihm um die Analyse geht, welche Rolle ein Text im Rahmen seines konkreten Verständnisses von (guter) po-litischer Ordnung einerseits göttlicher Macht oder göttlichen Mächten, andererseits irdischen Machtträgern zuschreibt (6). Die Esthererzählungen wählt er als Untersuchungsobjekt, da sie seines Er­achtens thematisch passend in fünffacher Weise eine »Geschichte von Macht, Einfluss und politischen Intrigen [ausgestalten], in der die jüdischen Heldinnen und Helden auf dramatische Weise eine tödliche Gefahr für ihre Diaspora-Gemeinde abwenden […]. Das Zu­sammenspiel der Protagonistinnen und Protagonisten, die Rolle Gottes und letztlich die gesamte Machtstruktur der Vorgänge am Königshof werden je unterschiedlich dargestellt und bewertet.« (49)
Methodisch erhebt B. im Rahmen seiner Einleitung (Kapitel 1) ein Set von Leitfragen zum Ausgangspunkt. Einerseits kreisen sie darum, wer in der Erzählwelt im Rahmen welcher Machtbereiche mit welchen Mitteln Macht ausübt, andererseits darum, wie die Texte somit Machtstrukturen oder auch Veränderungen von Machtstrukturen thematisieren und bewerten (54). Die Analyse geht nacheinander alle Textversionen durch (Kapitel 2–6), wobei B. jeweils nicht eins zu eins seinen Leitfragen folgt, sondern einzelnen Erzählfiguren nachgeht, konkret dem König, Haman, Mordechai, Ester, der jüdischen Gemeinschaft und Gott. Damit reiht sich die Arbeit grundsätzlich in einen zur Estherliteratur bereits bestehenden Kreis vergleichender Charakterstudien ein. Seinen eigenen Akzent setzt B. mit besagtem politisch-theologischem Fokus und der Berücksichtigung von EstVL und EstJos. Ein Fazit bündelt die Ergebnisse zu jeder Textversion. Das Schlusskapitel (Kapitel 7) stellt im Rahmen eines Gesamtfazits die herausgearbeiteten konzeptuellen Gemeinsamkeiten und Besonderheiten der Versionen zusammen und identifiziert insbesondere unterschiedliche Tendenzen bezüglich ihrer Handlungsorientierung.
Für EstMT kommt B. zum Schluss, dass die handlungsorientierende Botschaft aufgrund fehlender expliziter Aussagen zu Gott ganz auf der Ebene menschlicher Beziehungen und Handlungen ihren Kern finde (298). Bei EstLXX leitet er u. a. von der Tatsache, dass Gott zweimal am König handelt (EstLXX D,8; 6,1), ab, dass die Erzählfassung zu einer loyalen Haltung gegenüber fremden Herrschern anhalte (299). Eine noch positivere Haltung gegenüber dem irdischen Herrscher, aber zugleich eine Hervorhebung der »Einzigkeit und Einzigartigkeit Gottes sowie seine[r] Überlegenheit über jede andere Macht« identifiziert B. bei EstAT (299). Bei EstVL wiederum, der einzigen Version, die am Ende keine Gewalt gegen die Feinde erwähnt, erkennt er eine Betonung der bundestheologischen Dimension der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk und eine auffällige Inszenierung Mordechais als prophetisch-priesterlichen Anführer, der das Ideal verkörpere, in einer »Doppelrolle […] zugleich als politischer Verbündeter des Monarchen und als Leiter der kultisch-rituellen Praxis seiner Gemeinde« zu agieren (300). EstJos schließlich lässt nach B. die Programmatik des Gesamtwerks des Josephus greifbar werden, zum einen, was Gott betrifft – EstJos unterstreiche, dass dessen Weisheit und Gerechtigkeit sich in historischen Zusammenhängen offenbaren –, zum anderen, was die Rolle der jüdischen Gemeinschaft angeht. Die Nacherzählung der Esthergeschichte erlaube es Josephus, gerade die strenge Orientierung dieser Gemeinschaft am mosaischen Gesetz nicht als in Konflikt mit der politischen Gesamtordnung stehend, sondern als mit ihr harmonierend darzustellen (301). Eine Reflexion der Frage, inwiefern die untersuchten Quellen Aufschluss über damalige Debatten im Bereich politischer Theologie geben, beschließt die Arbeit. Nach B. bieten die Estherversionen insbesondere Diskus-sionsbeiträge zur Frage nach Gottes Handeln in der Geschichte, zur Frage nach der Haltung gegenüber fremden Herrschern und der Frage nach Mitteln der Gewalt gegenüber Feinden.
B.s methodische Konzentration auf einen konzeptionellen Vergleich hat den Vorteil, dass sich innerhalb einer Monographie tatsächlich fünf Erzählversionen durchbuchstabieren lassen. Fragen der Erzähl- und Gattungsanalyse, die Frage, mit welchen Erzähltraditionen und Vorstellungskomplexen eine jede Erzählfassung möglicherweise in einem Dialog steht, und Fragen nach historischen Bezügen umschifft B. mit diesem Fokus zu großen Teilen. Da alle diese Aspekte aus exegetischer Perspektive nicht unwichtig sind, um die Aussageintention, das theologische Profil und die Pragmatik eines Textes angemessen zu bestimmen, hinterlässt B.s Analyse, die einerseits bewusst nicht näher auf historische Kontexte eingehen will, andererseits aber doch die handlungsorientierende Botschaft der Texte, wie er es nennt, herausarbeiten will, teilweise einen unbefriedigenden, da verkürzten Eindruck. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn B. bei EstMT vom Befund ausgehend, dass Gott nicht explizit erwähnt wird, die politische Arena rein innerweltlich bestimmt sehen will und pauschal folgert, dass nach EstMT politisch »fast alle Mittel recht [sind], wenn das Wohlergehen der jüdischen Gemeinschaft auf dem Spiel steht, sogar die massenhafte Tötung von Gegnerinnen und Gegnern« (298). An diesem Punkt hätte z. B. eine Auseinandersetzung mit Arbeiten zur Ge­waltthematik in EstMT gewinnbringend sein können, zudem ein Gespräch mit der Gegenthese, die Catherine Vialle u. a. in ihrer 2010 veröffentlichten Dissertation stark macht (dies., Une analyse comparée d’Esther TM et LXX). B.s Arbeit bleibt über den Einbezug bisher eher wenig beachteter Textversionen innovativ, narrativ und vor allem theologisch bleibt aber auch an diesen Versionen noch vieles zu erschließen. Dass sein Buch im Anhang eine Deutschübersetzung von EstVL bietet, bahnt den Weg für ein »Mehr«.