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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

270–272

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Schwarz, Susanne

Titel/Untertitel:

SchülerInnenperspektiven und Religionsunterricht. Empirische Einblicke – Theoretische Überlegungen.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2019. 637 S. m. 11 Abb. u.138 Tab. Kart. EUR 69,00. ISBN 9783170374683.

Rezensent:

Frank M. Lütze

Quo vadis, Religionsunterricht? Während die Debatte um die Zu­kunft(sfähigkeit) des konfessionellen Religionsunterrichts herkömmlicher bundesdeutscher Prägung gegenwärtig verstärkt und zum Teil über Fachkreise hinaus geführt wird, ist es um die empirische Erfassung seiner Realität weit schlechter bestellt. Wichtige, immer wieder formulierte Anfragen – etwa, wie es um die Pluralitätsfähigkeit des Fachs bestellt ist oder in welchem Umfang und mit welchen Zielen im Religionsunterricht konfessionell be­stimmte »Binnenperspektiven« erschlossen werden – werden jedoch schnell holzschnittartig bzw. laufen Gefahr, Klischees zu reproduzieren, wenn auf eine vorausgehende sorgfältige Bestandsaufnahme verzichtet wird. Eine solche liegt nun mit der 2019 veröffentlichten Untersuchung von Susanne Schwarz für den Freistaat Bayern vor.
Als quantitative Fragebogenerhebung unter Schülerinnen und Schülern in der 9./10. Klasse steht sie in der Tradition regionaler Resonanzstudien zum evangelischen Religionsunterricht in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt, deren (klug überarbeitetes) Design erstmals in einem westdeutschen, volkskirchlich geprägten Flächenland zur Anwendung kommt und Einblicke in den bayerischen Religionsunterricht ebenso ermöglicht wie länderübergreifende Ost-West-Vergleiche. Gleichzeitig reicht die Arbeit, die als Habilitationsschrift eingereicht wurde, in Sache wie Umfang signifikant über eine bloße Dokumentation der Schülerbefragung hinaus. So kontextualisiert die Vfn. die untersuchten Aspekte in einem weitgespannten wissenschaftlichen Horizont. Instruktiv ist vor allem aber die im letzten Drittel des Buches geführte ausführliche Diskussion der Ergebnisse im Blick auf den Vergleich mit Ostdeutschland, auf Bedürfnisse und Interessen nichtreligiöser Ju­gendlicher im Religionsunterricht sowie im Blick auf die Debatte um die Qualität des Faches.
Das Buch ist in sechs Kapitel aufgebaut: Ein einleitendes erstes Kapitel sowie eine ausführliche Ergebnisreflexion im fünften und ein kurzes Fazit im sechsten Kapitel rahmen die Darstellung und Diskussion der Ergebnisse im zweiten bis vierten Kapitel.
Im ersten Kapitel (21–139) erfährt die Studie eine umfassende theoretische Begründung (1.1), Verortung in der Forschungstradition (1.2), regionale Kontextualisierung (1.3) sowie methodologische Fundierung (1.4). Hervorzuheben ist die detaillierte Zusammenstellung vorhergehender Untersuchungen, die trotz unterschiedlicher Studiendesigns und Stichprobenzusammensetzung methodisch reflektiert übergreifende Trends herausarbeitet. Dass mit der Entscheidung für eine Befragung in der von Bucher, Hanisch und Pollack begründeten Tradition regionaler Religionsunterrichtsstudien der Fokus auf dem Passungsverhältnis zwischen jugendlichen Erwartungen und Erfahrungen auf der einen und dem Angebot des Religionsunterrichts auf der anderen Seite liegt und demgegenüber etwa Einblicke in die Religiosität der Schülerinnen und Schüler nur ausschnittartig (vielleicht auch etwas holzschnittartig) erfolgen, ist der Vfn. bewusst (98 ff.). Den Mehrwert eines länderübergreifenden Datenvergleichs weiß die vorliegende Studie freilich ausführlich zu nutzen. Die umfangreiche Teilnahme von 2.151 Schülerinnen und Schülern der Klassen 9/10 an bayerischen Mittel- und Realschulen ermöglicht auch eine variablenabhängige Auswertung, die einige signifikante Unterschiede aufweisen kann.
Die Kapitel 2 bis 4 stellen die Befragungsergebnisse im Blick auf die Motivation zur Teilnahme am Religionsunterricht (Kapitel 2, 141–183), zur Wahrnehmung des Faches (Kapitel 3, 185–320) sowie zu religiösen Prägungen/Einstellungen der Jugendlichen (Kapitel 4, 321–411) zusammen. Der Ergebnispräsentation ist jeweils eine theoretische tour d’horizon vorgeschaltet, die die gestellten Fragen im Kontext allgemeinpädagogischer, lernpsychologischer sowie religionspädagogischer Überlegungen verortet und ihre konkrete Operationalisierung im Fragebogen erläutert. Im Zentrum jedes Kapitels steht eine Darstellung der Ergebnisse, gefolgt von Auswertungen nach den Variablen Alter, Geschlecht, Schulart, Region sowie Gottesglaube. Die Ergebnisse, die zum Teil überraschend eindeutig sind (dazu s. u.), könnten gelegentlich durch Balkengrafiken akzentuiert werden; allerdings setzt der Buchdruck des Verlags der Wiedergabe von Abbildungen enge Grenzen (vgl. 157 oder 582).
Die Entscheidung, verstärkt mit offenen Fragen zu arbeiten und damit der Eigenlogik der Jugendlichen mehr Raum zu geben, führt zu ausgesprochen instruktiven Einsichten, etwa wenn die Jugendlichen über ihren Lernertrag im Religionsunterricht Auskunft geben (247 ff.), die Wichtigkeit des Faches begründen (290 ff.) oder reflektieren, warum sie an Gott glauben (374 ff.; eine theologisch diskussionswürdige, aber im vorliegenden Zusammenhang produktive Frage). Im Rahmen einer quantitativen Studie lassen sich die Aussagen in den Freitextfeldern freilich nur begrenzt auswerten (und ihre etwa S. 250 angedeutete Quantifizierung überschätzt m. E. die Eindeutigkeit der zugewiesenen Kategorien); insofern wäre eine zusätzliche (online-)Veröffentlichung der konkreten Schülerantworten anzuregen. Jedes der drei auswertenden Kapitel schließt mit einer Diskussion der Ergebnisse, die wichtige Befunde aufnimmt und in Bezug zu Theoriediskursen setzt.
Das fünfte Kapitel (413–605), das das argumentative Herzstück der vorliegenden Arbeit bildet und ggf. auch für sich gelesen werden kann, fasst wichtige Ergebnisse der Schülerbefragung zusammen (5.1), zieht eine erste religionspädagogische Bilanz (5.2) und diskutiert die Befunde mit Bezug auf die übergeordneten Fragen nach innerdeutschen Ost-West-Differenzen (5.3), nach nichtreligiösen Schülerinnen und Schülern im Religionsunterricht (5.4) sowie nach Qualitätsmerkmalen eines »guten« Religionsunterrichts (5.5). Die erstgenannte Reflexionsperspektive überrascht nicht, insofern die bayerische Untersuchung gezielt an ostdeutsche Vorgängerstudien anschließt und erstmals einen Ost-West-Vergleich erlaubt. Dabei treten tendenzielle Unterschiede (etwa in der Beliebtheit des Faches, 468 f.) ebenso hervor wie signifikante Gemeinsamkeiten (z. B. bei thematischen Präferenzen, 460). Hellsichtig ist aus meiner Sicht der zweite Reflexionsgang mit dem Fokus auf »nichtreligiöse« (d. h. nach Selbstauskunft nicht an Gott glaubende) Jugendliche, bei denen sich signifikante »Passungsprobleme« mit dem Angebot des Religionsunterrichts zeigen: eine Herausforderung, die die Religionsdidaktik nicht ignorieren oder als ostdeutsches Sonderphänomen marginalisieren darf. Der dritte Reflexionsgang gilt dem Diskurs um den »guten« Religionsunterricht und mahnt zu Recht eine systematische, reflektierte Berücksichtigung der Perspektive von Lernenden für die Qualitätssicherung des Religionsunterrichts an.
Ein abschließendes, sehr kurzes sechstes Kapitel (607–610) be­nennt schlaglichtartig einige Einsichten aus der Untersuchung für die Weiterentwicklung des Religionsunterrichts.
Im (etwas groß geratenen) Umfang, aber auch in der Aussagekraft geht die vorliegende Studie weit über den Rahmen einer Länderstudie zum Religionsunterricht hinaus. Als Vergleichsstudie zu den ostdeutschen Länderstudien vermag sie die Herausforderungen eines Religionsunterrichts mit »eher automatische[r] Teilnahme« (488) in einem weitgehend volkskirchlichen Kontext zu zeigen. Vor dem dabei auftretenden (und von der Vfn. mehrfach reflektierten) Dilemma zwischen einer Anlehnung an ein in die Jahre ge­kommenes Untersuchungsdesign und einer Neukonstruktion um den Preis der Vergleichbarkeit werden auch künftige Resonanzstudien stehen; wünschenswert, wenn auch nur schwer realisierbar, wäre künftig im Blick auf einige Fragen ein fächerübergreifender empirischer Zugriff. Die partielle Differenz zwischen dem, was Schülerinnen und Schüler am Ende des Religionsunterrichts nach eigenem Bekunden können und dem, was sie für relevant halten (301), vor allem aber die beobachteten erheblichen Passungsprobleme für nichtreligiöse Jugendliche weisen auf Herausforderungen hin, die für Plausibilität und Berechtigung des Fachs an öffent-lichen Schulen ein crucial point werden dürften. Dass schließlich Qualitätskriterien für den Religionsunterricht nicht an den Lernenden und ihren Perspektiven vorbei aufgestellt und überprüft werden können: Auch das wird in dem Buch eindrucksvoll deutlich. Dabei – wie überhaupt in den konzeptionellen Schlussfolgerungen – bleibt der Bezug zwischen empirischen Ergebnissen und normativen Aussagen argumentativ vermittelt und hält sich für alternative Schlussfolgerungen offen. Die Vfn. hat insofern ein in empirischer Hinsicht belastbares, in konzeptionellen Fragen jedoch eher tentatives als thetisches Buch geschrieben. Quo vadis, Religionsunterricht: Vollmundige Rezepte für einen krisenfesten Religionsunterricht wird man im vorliegenden Werk vergeblich suchen. Wer aber nach dem gegenwärtigen Stand des Faches fragt und Stellschrauben für notwendige Nach- oder Neujustierungen des Faches identifizieren möchte, der findet im Spiegel erlebten konfessionellen Religionsunterrichts bei der Vfn. überraschend klare Hinweise. Das macht das Buch auch für Nichtbayern zu einer lohnenswerten Lektüre.