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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

252–254

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Hoff, Johannes

Titel/Untertitel:

Verteidigung des Heiligen. Anthropologie der digitalen Transformation.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2021. 606 S. m. 6 Abb. Geb. EUR 58,00. ISBN 9783451389665.

Rezensent:

Günter Bader

Von den Bestien aus dem Abgrund des Anthropozäns — Artenstreben, Covid-19, Digitalisierung, Klimawandel, von denen keiner weiß, ob sie zusammen oder gegeneinander zum Kampf angetreten sind – »fokussiert« Johannes Hoff die digitale Transformation – doch so, dass er die Ebene praktischen Ratgebertums hinter sich lässt und eher Grundsätzliches thematisiert. Seine Sicht gilt der longue durée historischer Prozesse; er denkt in Millennien als dem Tag, der ges­tern vergangen ist, und philosophia perennis ist für ihn beileibe kein Unwort. So werden auf der einen Seite die Probleme immer prinzipieller, auf der anderen werden sie immer detaillierter. Die zahlreichen Fußnoten zeigen H.s Vernetzung mit der deutschen, französischen und – mit Schwerpunkt auf dem Ressourcement (291.326 ff.346) – englischen Diskussion und geben Einblick in kapillare Prozesse einer intensiven Scholaren- und Forschervita. Was nun vorliegt, bildet die Ouvertüre zu einem Schauspiel, in dem Transhumanismus, Biokonservativismus und Posthumanismus auf der einen und Spiritualität auf der anderen Seite die Bühne betreten. H. malt die Kulisse, vor der er seine Lehre als Innsbrucker Dogmatiker vor Kurzem begonnen hat.
H. spricht von »drei Teilen« seines allem Augenschein nach nur zweiteiligen Buches. Den dritten bilde der Apparat der Fußnoten (8), von denen nicht wenige auf Einzelinterventionen und frühere Monographien desselben Verfassers verweisen. Zu Letzteren gehören Spiritualität und Sprachverlust. Theologie nach Foucault und Derrida 1999, Kontingenz, Berührung, Überschreitung. Zur philosophischen Propädeutik christlicher Mystik nach Nikolaus von Kues 2007, The Analogical Turn. Re-thinking Modernity with Nicholas of Cusa 2013, und der Leser wird unterrichtet, dass vorliegende Verteidigung des Heiligen als »anthropologisch und technikphilosophische fundierte Einleitung« zu Magic Machines. Art, Technology, and Sacramentality (unveröffentlicht) konzipiert wurde (10). Die restlichen zwei Teile des Buches, und das heißt, das Buch als Ganzes: Teil 1 Transhumanismus als Symptom symbolischer Verelendung und Teil 2 Minimal Religion: Spiritualität in einer post-konfessionellen Welt, folgen nicht dem fundamentaltheologischen Standardprogramm des Fortschreitens von Stufe zu Stufe. Bereits auf der philosophischen Ebene opponieren beide Teile nicht nur graduell, sondern binär. Sie verfahren »kritisch«(8.10.318) versus »konstruktiv« (10.23). Sodann erklimmen sie die medizinische Ebene und verhalten sich wie »diagnostisch« (8.19A.21.299.392) versus »Therapie« (392, cf. 379 f.). Und nicht genug damit. Sie treffen aufeinander wie »Herausforderung« im ersten (23 f.299) und »Verteidigung« im zweiten Teil (202.274.405.507.543). Ist aber die Ebene, auf der agiert wird, ein Duell zwischen Beleidiger und Beleidigtem, dann ist die wirkliche Ebene die athletische (446 f.). Die Schulbegriffe der philosophischen Theologie, Apologetik und Polemik bieten nur einen verblassten Eindruck vom Format des Gottesmannes, des-sen es zur Verteidigung des Heiligen bedarf. Ein solcher packt den Stier bei den Hörnern. Die Verteidigung des Heiligen ist eine »Streitschrift« (8).
Der Duktus von Teil 2 ist direkt und nicht selten, der Aufgabe der Verteidigung entsprechend, frontal, offensiv. Insoweit von Mys­tagogie keine Spur. Seine Pointe ist unverblümt christologisch, genauer und noch unverblümter: Sie ist in Fortführung von Chris-tologie ikonologisch. So erst passt sie genau zu den Bedingungen des Streits. Die vier Kapitel dieses Teils beschreiten den Weg von der Liturgie (lex orandi) zur Dogmatik (lex credendi) und gelangen im letzten (Kapitel IV) zu einem Höhepunkt, der über die in früheren Arbeiten H.s dargebotene Christologie der alten Konzilien insofern hinausführt, als mit Nicäa II 787 der »wesentliche Aspekt« der Verehrung von Ikonen und mit ihnen die von »sakralen Artefakten« (404A) und »geweihten Objekten« (pass.) in Sicht kommt. Die ge­lungene, nach primären und sekundären liturgischen Symbolen differenzierte Interpretation der Definition über die heiligen Bilder (DH 601) des ersten Millenniums beansprucht, das spirituelle Ge­genstück zur digitalen Technologie des dritten Millenniums zu liefern (524 ff.).
Der Duktus von Teil 1 ist indirekt und oblique. An sich, wie zum Agon gehörig, zur Herausforderung bestimmt, zeigt sich rasch, dass er, bei aller peniblen Wiedergabe der gegnerischen Argumente, doppelbödig verfährt. So und nur so wird er zu einem durch und durch manuduktorischen, mystagogischen Text. Seine Pointe ist indirekt trinitätstheologisch, jedoch so, dass diese über weite Stre-cken auf dem Hintergrund einer versteckten Gnadentheologie entwickelt wird. Man mag dem zum Mantra erstarrenden, dem Ressourcement entlehnten Verdikt von Franziskanern, Reformatoren und Aufklärern trauen oder nicht: jedenfalls das »Dreieck« von Natur, Technik und Kultur (75.99.102.381.505), das in fünf Kapiteln bis zur Dreiheit von Biokonservativismus, Transhumanismus und Posthumanismus geführt wird, ist als technikphilosophische Trinitätsanalogie konzipiert. Sie erlaubt es, die klassischen Häresien in Trinitätsaussagen als »Holzwege« der philosophischen Anthropologie zu reformulieren (81 f.). Technikphilosophie wird zur Negativfolie von Trinitätslehre. Ebenso auch die großartige Kaskade der Anthropologie (Kapitel III): Kein intellectus ohne ratio, keine ratio ohne sensus communis, kein sensus communis ohne memoria, kein Erinnern ohne Vergessen, kein Vergessen ohne Vergeben, aber ohne Vergeben keine Gnade: eine Sequenz, die in ihrer »gnadenlosen Logik« (241) ex negativo abbildet, was »Gnade« vermöchte (254–264), um den »Blindflug« in den »ökologischen und sozio-kulturellen Abgrund« (269) zu bremsen. Apokalypse wird zur Negativfolie von Gnadenlehre. Max Webers stahlhartes Gehäuse, über dessen Herkunft viel gerätselt wurde (MWG I/9, 237.422), mutiert ins »carbinharte« (239.250), das in seiner Unerbittlichkeit (cf. 222A) nicht viel zu rätseln übriglässt.
Der übergroße Gegenstand digitale Transformation verlangt mutige Antworten. Eine solche liegt hier vor. Kein Zweifel: Das ist ein Buch, das in Leidenschaftlichkeit wie mit Besonnenheit, in der Kraft seines weitgefächerten Zeigens (»Don’t think, but look!«, 342) ebenso wie mit der Agilität seines gesammelten Denkens (Don’t gaze or stare, but think!) seinesgleichen sucht. Doch soll die postkonfessionelle Welt nicht abermals in Differenzen konfessionells-ter Art, sakramentale hier und wortgeleitete Theologie dort, »Fachkräfte« für »Mystagogie« hier (321.392) und »Sonntagsprediger« dort (280.285 f.) auseinanderfallen, die doch beide nur ressentimentgeladene »Gelegenheitsseelen« (323.407) hervorbringen könnten, möchten drei Fragen erlaubt sein.
Die erste: Was heißt Minimal Religion? Der von M. N. Epštein 1999 und Ch. Taylor 2007 ins Spiel gebrachte, von H. als Merkmal postkonfessioneller Spiritualität übernommene (319.392.494) und streng in die Disziplin des granum minimum sinapis gestellte (379.478) Begriff begnügt sich nicht mit dem schwachen Verständnis (»klein« 67.417.534), sondern verlangt ein starkes (unendlich-klein). Es könnte daher sein, dass das ansprechende »ABC christlicher Spiritualität«, das H. ausgehend von Evagrius Pontikus in drei Leitmotiven entfaltet (Teil 2, Kapitel II) und mit einer genialen, doxologischen Genealogie des Begriffs »Orthodoxie« zum Gipfel führt (418), schon fast etwas zu groß ist. Das Unendlich-Kontrakte hätte womöglich mit A allein Arbeit genug gehabt. Also lautet die Frage: Müsste nicht in A die Sakramentstheologie immer zugleich mit einer Worttheologie entstehen, die sich gleichwohl von jener unterscheidet?
Die zweite Frage folgt daraus: Was heißt Scheidung? Sie begegnet das eine Mal in der Tradition der paulinischen, monastischen und jesuitischen Scheidung der Geister, und in ihr endet und kulminiert nicht weniger als der gesamte Teil 1 (317 f.; cf. 96.323.419). Sie begegnet das andere Mal im kritischen Terminus der »Scheidekunst«, die aber, zurückgeführt auf den Lutheraner J. G. Hamann (43A.356A), dem Zeitalter zugeordnet wird, das den aporetischen Gegensatz von Transhumanismus und Biokonservativismus hervorgebracht hat. Und mit der Erinnerung daran be­ginnt Teil 2 (319; cf. 356 ff.362 ff.387 ff.468 ff.). Nicht bloß »Scheidekunst«, auch »Geisterscheidung« ist ars discretionis. Also treffen im Scharnier des Gesamtwerks ars discretionis als Gebot und ars discretionis als Verbot direkt aufeinander, und dies auf zwei gegenüberliegenden Seiten (318 f.). Wie ist diese Schnittstelle von Ja und Nein in Bezug auf dasselbe zu deuten: harte Fügung oder unlösbar bleibende Antinomie?
Dies führt zur dritten Frage, die den Begriff der Spiritualität in seiner Konsistenz tangiert. Spiritualität scheint erst in Teil 2 frei zu regieren. Sie regiert aber auch bereits in Teil 1 (28 ff.84.205.322 f.). Die Theologiegeschichte kennt franziskanische Spirituale; dominikanische kennt sie nicht. Geht die »Verschränkung« der Spiritualität so weit: keine Spiritualität ohne Scheidung, aber auch: keine Scheidung ohne Spiritualität? Guilty bystander, schuldiger Danebensteher (259.261)?