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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

233–235

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Jochen [Hg.]

Titel/Untertitel:

Erzähltes Selbst/The Narrated Self. Narrative Ethik aus theologischer und literaturwissenschaftlicher Perspektive / Narrative Ethics from the Perspective of Theology and Literary Studies.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020. 200 S. = Theologie – Kultur – Hermeneutik, 27. Kart. EUR 38,00. ISBN 9783374061174.

Rezensent:

Wolfgang Vögele

Die Beiträge dieses Bandes gehen auf drei interdisziplinäre Workshops der Universität Paderborn zurück. In dem nicht mehr als eine Seite langen Vorwort (5) legt sich der Herausgeber auf eine nicht weiter explizierte skeptische Ethik fest, welche der Person des Handelnden größeren Einfluss bei ethischen Entscheidungen einräumt als Vernunft, Argument und Konsequenz. Zugestanden wird weiter, dass sich Theologie und Literaturwissenschaften aus diesem Grund mit Konzepten narrativer Ethik beschäftigt haben.
Der erste Beitrag (9–62) von Martin Leutzsch, der knapp ein Drittel des Bandes einnimmt, gilt den Testamenten der zwölf Patriarchen, also einem Konvolut antiker Texte, in denen die Erzväter Israels ihren Nachkommen Ratschläge, weisheitliche Empfehlungen und spirituelle Anweisungen geben. Es irritiert schon ganz am Anfang, dass der Autor in Anmerkungen, die zum Teil vier Fünftel der Gesamtseite in Anspruch (z. B. 12.13.14, ins Extrem getrieben 45 f.48.49.50) nehmen, ausführlich über Drucke und Editionen dieser Texte informiert, obwohl gar nicht klar ist, was die unterschiedlichen Drucke und Editionen für das Thema des narrativen Selbst austragen. Die Behandlung von Einleitungsfragen nimmt ca. die Hälfte des Aufsatzes ein, bevor Leutzsch auf die eigentlichen ethischen Themen zu sprechen kommt, nämlich Tugenden und Laster (28 ff.), das Personkonzept (30 ff.), das Thema Beziehung (32 ff.), die Rolle von Vorbildern (36 ff.), der Haushalt als lebensweltliches Umfeld ethischer Reflexion. Im Kapitel über Vorbilder werden unterschiedslos moderne und antike Vorbildtheorien zitiert, so dass mögliche historische Unterschiede verwischen bzw. gar nicht erst benannt werden. Am Ende gibt der Autor ethischen Testamenten aus der Moderne ausgiebig Raum, fiktionalen Texten ebenso wie dokumentarischen. An diesem Punkt hätte die argumentative Arbeit eigentlich erst anfangen müssen, aber der Autor belässt es bei einer Aneinanderreihung von Fragen, die nun endlich auf die historischen Unterschiede zwischen Patriarchentexten und moderner Literatur abzielen (59). Mit dieser methodischen Anlage aber ist das Thema eigentlich verschenkt. Der Autor ist in Einleitungsfragen steckengeblieben. Ein inhaltlicher Vergleich zwischen einem der Patriarchentexte und einem modernen Text (z. B. Randy Pausch oder Tiziano Terzani) hätte dem Essay zu sehr viel mehr Schlüssigkeit und thematischer Relevanz verholfen und dann einen Ausgangspunkt für die Bewertung von narrativen Personkonzepten in der Ethik bilden können.
Der folgende Beitrag von Lothar van Laak kündigt zwar im Untertitel die Reflexion von Modellen narrativer Ethik am Beispiel von Hölderlin und Schiller an (63–73), de facto reflektiert er über Identitätsbildung, ethische Fragen fallen im Verlauf des Essays einfach weg. Selbst wenn es so wäre, dass Schiller und Hölderlin vor allem über Identität und weniger über Ethik geschrieben hätten, so wäre auch das wenigstens eine Defizitreflexion wert gewesen.
Dieses Defizit – Identität vor Ethik – macht Marta Famula gerade zum Thema. Ihr Interesse gilt Novalis’ »Heinrich von Ofterdingen« (75–85). An seinem Beispiel reflektiert sie die Ambivalenz von Identitätsbildung. Wenn diese nicht klar zu beschreiben ist, so hat das Folgen für Konzepte ethischen Handelns wie etwa dem der Verantwortung. Eva Baillie spielt die Frage nach der Funktion der Herausbildung eigener Identität an einem modernen Beispiel durch und diskutiert Identitätsbildung am Beispiel von Tagebuch- und Blogtexten, exemplarisch denen von Wolfgang Herrndorf (127–140). Sie kommt zu dem Ergebnis: »If we assume that individuals fashion and maintain their identities through narrative […], those narratives need to become the focus of any debate in theological ethics.« (140) Im Grunde wird damit Ethik im Anschluss an neuere Singularisierungstheorien (Reckwitz) individualisiert, und es ist die Frage zu stellen, ob Nächstenliebe, Menschenwürde, die Gol-dene Regel und ihre Beachtung von der individuellen Lebensgeschichte der Handelnden abhängig und nicht als universale Prinzipien zu begreifen sind. In dem Band wird die Frage in der Regel aus der Perspektive der Identitätsbildung, aber eben nicht aus der Ethik gestellt.
Jochen Schmidt (141–151) untersucht in seinem Beitrag Schilderungen von Depression, Krankheit und Trauer auf ihre identitätsstiftende Kraft, kommt dabei aber zu eher skeptischen Ergebnissen.
Ein zweiter Beitrag von Martin Leutzsch fragt nach den ethischen Dimensionen mündlichen Erzählens in einer Selbsthilfegruppe (153–181). Der Verfasser beschreibt das an einem Beispiel, zu dem er – so formuliert er selbst – »Zugang« (154) habe. Mehr wird nicht darüber mitgeteilt. Dieses erscheint als außerordentlich problematisch, denn man muss schließen, dass die ethischen Reflexionen, die auf die Beschreibung der Selbsthilfegruppe folgen, dis­tanzlos und subjektiv eigene Erfahrungen zum Thema machen. Hier wäre eine Methodenreflexion angebracht gewesen, wenn nicht ein solcher Zugang wissenschaftsmethodisch eigentlich ausgeschlossen ist. Der Verfasser unterlegt seine persönlichen Erfahrungen dann mit ethischen Reflexionen, die um die Begriffe der parrhesia, des Zuhörens und der Lebenskunst gruppiert werden. Wieder fällt das Missverhältnis von Fließtext und Anmerkungen auf. Es verblüfft, dass mit Ausnahme des Begriffs der Lebenskunst wieder vor allem historische Literatur zitiert wird, wo doch mit dem Begriff der Authentizität ein Paradigma zur Verfügung gestanden hätte, diese Themen unter den Bedingungen moderner Lebenswelt zu diskutieren.
Der letzte Beitrag des Bandes von Jannis Giese (183–196) diskutiert endlich Konzepte narrativer Ethik in Gestalt eines Literaturberichts, wobei es verblüfft, dass die wichtigen Weiterwirkungen des Erzähl-Konzepts von Wilhelm Schapp, etwa bei Hermann Lübbe, aber noch sehr viel mehr bei Hans Blumenberg, nicht berücksichtigt werden.
Will man ein Fazit dieses sehr heterogenen Bandes ziehen, so kommt man um die Feststellung nicht herum, dass dem Band eine Einleitung fehlt, die die Fragestellung der zugrundeliegenden Konferenzen erläutert und in diesen Zusammenhang auch die Beiträge einordnet. Man hätte das auch in Form eines ausführlichen Fazits formulieren können. So, in dieser – sagen wir – nicht-explikativen Form, werden die Kontaktstellen zwischen theologischer Ethik und Literaturwissenschaft nicht richtig deutlich, zumal einige der theologischen Beiträge entweder dem gestellten Thema in Exegese und Einleitungswissenschaft ausweichen, die Differenz zwischen aktueller und historischer Behandlung des Themas verwischen und schließlich auch in mindestens einem Fall wissenschaftsmethodische Mängel zeigen.
Man muss sich vergegenwärtigen, dass, bevor dieser Band er­scheinen konnte, der Verlag, die Reihenherausgeber, der Herausgeber des Bandes, die mit finanzieller Unterstützung am Band beteiligten Stiftungen, darunter die renommierte Thyssen-Stiftung, alle die Gelegenheit hatten, Konsistenz und Qualität dieser Publika-tion und der Einzelbeiträge zu prüfen. Die Leser können sich nun selbst ein Urteil bilden, ob das geschehen ist.
Manche Theologen sind dazu übergegangen, Konzepte narrativer Ethik polemisch gegen klassisch argumentierende Ethikentwürfe in Stellung zu bringen und diese als moralisierend oder zeitenthoben zu diskreditieren. Dieser Band, der für die narrativ-subjektive Partei Werbung machen will, hat die entsprechenden Beweise noch keineswegs erbracht. Spannend allerdings wäre das theologische Nachdenken über diese offene Frage, die man keineswegs als gelöst betrachten kann. Sie müsste systematischer und konsistenter und interdisziplinär schlüssiger in Angriff genommen werden.