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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

199–201

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Boccaccini, Gabriele

Titel/Untertitel:

Paul’s Three Paths to Salvation. Foreword by D. B. Hart.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2020. 200 S. Geb. US$ 30,00. ISBN 9780802839213.

Rezensent:

Martin Meiser

In dem hier anzuzeigenden, wohl nicht nur für ein wissenschaftliches Publikum geschriebenen Buch unternimmt Gabriele Boccaccini – anerkannter Spezialist für die Literatur des antiken Judentums, insbesondere der Henochliteratur – den Versuch, auch Paulus auf dem Hintergrund dieser Tradition zu interpretieren. Die provozierende These der drei Heilswege sei vorweggenommen: Die endzeitliche Errettung erfolgt bei Juden aufgrund ihrer Toraobservanz, bei Nichtjuden aufgrund der Befolgung des natürlichen Ge­setzes, bei den Sündern aus den Juden und den Nichtjuden durch die Erlösungstat Jesu Christi (162).
Nach einem Vorwort von David Bentley Hart (man findet in dem Buch keine Information über ihn) verortet sich B. einleitend (1–25) innerhalb der durch Namen wie John Gager, Mark Nanos, Pamela Eisenbaum und Paula Fredriksen repräsentierten »Paul-Within-Judaism Perspective«, die noch konsequenter als die sogenannte »New Perspective« dem Völkerapostel wie der apokalyptisch-messianischen Jesusbewegung einen legitimen Platz innerhalb des pluralen antiken Judentums zuweist. Naheliegend wird, wie mittlerweile fast allgemein anerkannt, die Lebenswende nicht als Bekehrung von einer Religion zur anderen verstanden, sondern als Wechsel von einer innerjüdischen Gruppierung zu einer anderen (26–39).
Paulus teilt eine apokalyptische Weltsicht (vgl. 1Thess 1,9 f.; Gal 1,4), in der die Frage nach dem Woher des Übels in der Welt entscheidend ist (lehrreich der Überblick über die verschiedenen Antworten innerhalb des Judentums, 44–53). Sodann beschreibt B. (55–67) Jesu Selbstverständnis nach Mk 14,62 als Anspruch auf eine übermenschliche, himmlische Identität im Rahmen der Menschensohnvorstellung der Henoch-Tradition (ihr zufolge ist der königliche Messias relevant für die Errettung Israels als Nation, während die Rettung des Einzelnen an der Thoraobservanz hängt); Jesu Anhänger hätten auf die Frage, warum er vor dem Ende der Zeit komme, mit dem Verweis auf seine Funktion der Sündenvergebung (Mk 2,10) geantwortet. B. stellt eine besondere Nähe zwischen Mk 2,5; Lk 7,50 und 1Hen 50,3 fest – in dieser häufig missverstandenen Stelle werde erstmalig in der Henochtradition der Ge­danke des göttlichen Erbarmens im Endgericht über reuige Sünder geäußert (71). Jesu Sendung (u. a. Mk 2,5; Lk 7,50) richtet sich an die Adresse der »Vielen«, die zwischen den Gerechten und den unbußfertigen Sündern zu stehen kommen, während die Gerechten keines besonderen Rettungsaktes bedürfen (68–89).
In dem Kapitel zur Christologie des Paulus (90–104) benennt B. es als die entscheidende Frage innerhalb des sehr dynamischen jüdischen Monotheismus, wer bzw. was als geschaffen, wer bzw. was als nicht geschaffen gilt; der Messias der Henochtradition ist zwar ein übermenschliches Wesen, ist aber Teil der geschaffenen Welt. Der Sohn-Gottes-Titel in der Henochtradition impliziert keineswegs die Momente der Präexistenz und Inkarnation. Auch Paulus vermeidet für Jesus den Titel »Gott«, ebenso aber den Menschensohntitel, weil dies eine Subordination unter Adam implizieren würde (diese Be­gründung leuchtet mir von B.s Voraussetzungen her nicht ein). Phil 2,6 f. spricht Jesus Präexistenz zu, aber keine Inkarnation, ebenso wenig die Vorstellung, Jesus sei unerschaffen (100). Die Sendung Jesu, der als gehorsamer Gottessohn dem ungehorsamen Adam ge­genübergestellt wird (Röm 5,18), ist nicht nur Last minute-Notlösung für das Problem der Sünder, sondern nach Paulus die Antwort Gottes auf das unde-malum-Problem (104).
Im anschließenden Kapitel zur Soteriologie (105–130) betont B., dass zwischen Rechtfertigung und Gericht nach den Werken kein Widerspruch besteht. Die Idee der »Gerechten unter den Nichtjuden« ist, so äthHen 90,33, auch in der Henochtradition bekannt (109). Unter der Gewalt der Sünde stehen alle Menschen, aber nicht alle Menschen sind Sünder (maßgebend hierfür ist der Übergang von πάντες zu πολλοί in Röm 5,12.15), ebenso wie alle unter der Macht der Gnade stehen, aber nicht alle gerettet werden (116). Rechtfertigung meint die Annullierung der vergangenen Sünden, nicht die Rettung im Endgericht (122). Die Überschrift »Paul the Apostle to the Lost Sheep among the Nations« (131) für das fol-gende Kapitel (131–156) trägt die Hauptthese bereits in sich. Dass Nichtjuden als getaufte Gottesfürchtige in die Jesusgruppe aufgenommen werden könnten, hatte man schon vor Paulus entschieden; dieser wünschte die Nichtjuden allerdings als gleichwertige Mitglieder in der Gruppe zu sehen (141). Die in Gal 4,21–5,1 gemeinte Freiheit ist die Freiheit von der Macht der Sünde (142). Die Differenz zwischen Paulus und Jakobus besteht darin, dass Jakobus die paulinische Vorstellung von dem Versklavtsein der Menschen unter die Sündenmacht nicht akzeptiert hätte. Das kurze Schlusskapitel »Paul the Herald of God’s Mercy toward Sinners« (157–162) führt auf die eingangs genannte Hauptthese.
In deutlicher Abgrenzung zu dem verheerenden christlichen An­tijudaismus wird man sich einig sein über die historisch wie theo-logische Notwendigkeit (vgl. Röm 9,1–5; 11,1 f.17 f. etc.), Paulus konsequent auf dem Hintergrund des ohne maliziöse Wertung wahrgenommenen zeitgenössischen Judentums zu verstehen (was übrigens auch in Old Europe, auch in deutschsprachigen Veröffent-lichungen, immer mehr zum Maßstab geworden ist!). Lehrreich in dessen Präsentation durch B. sind die Verweise auf die Grenzlinie zwischen geschaffen und ungeschaffen, auf die Idee der »Gerechten unter den Nichtjuden« in 1Hen 90,33 und auf die zentrale Rolle des unde-malum-Problems. Für die Paulusexegese entscheidend ist tatsächlich, dass zwischen Rechtfertigung und Gericht nach den Werken kein Widerspruch besteht (diese Erkenntnis findet sich übrigens bereits in der patristischen Theologie, nämlich da, wo zwischen Röm 3,28, schon von Origenes auf das Hineinkommen in das Gottesverhältnis bezogen, und Jak 2,14–26 mit Hilfe von Gal 5,6 ausgeg-lichen wird). Ebenso ist es bereits ältere, leider früher allzu selten gewürdigte Einsicht, dass Paulus die Toraobservanz jüdischer Jesusgläubiger nie als verfehlt beurteilt. Vor einer Überschätzung von 1Kor 9,19–23 im Sinne persönlicher toraindifferenter Lebenspraxis des Apostels wird zu Recht gewarnt (150 f.).
Gleichwohl ergeben sich Anfragen. Die situativ undifferenzierte Behandlung der Paulusbriefe und deren unkritische Vermengung mit der Apostelgeschichte (z. B. 137 f.150), deren apologetische Tendenz in Apg 21,21.24.28 nicht wahrgenommen wird, können methodisch nicht überzeugen, ebenso wenig die fehlende Behandlung wichtiger Texte wie Gal 3,6–9; Röm 4 oder auch die von der Gesamtthese präjudizierte Deutung von Gal 4,21–5,1. Wie Phil 2,6 f. unter der Prämisse verstanden werden soll, dass hier nicht von einer wie auch immer gearteten »Inkarnation« die Rede ist, er­schließt sich mir nicht. Vollends bedürfte die genannte Hauptthese einer gründlicheren Fundierung. Rechnet Paulus wirklich mit Nichtjuden, die von sich aus das Naturgesetz einhalten und der Erlösung durch Christus nicht bedürfen (Röm 3,20a wird nur in einer etwas unklaren Nebenbemerkung gestreift; Röm 3,23 wird zwar S. 114 zitiert, hinsichtlich des πάντες jedoch nicht bedacht; Röm 8,3 f. fehlt bei B. völlig)? Bereits in der Erstverkündigung des Paulus gegenüber Nichtjuden wird die von B. namhaft gemachte apokalyptische Grundhaltung sichtbar (1Thess 2,18; 5,1 f.; 1Kor 6,2); diese Erstverkündigung enthält in 1Thess 1,9 f. eher den Anschluss an das römische Motiv der ira deorum als den Anschluss an ein Na­turgesetz, zu dem Nichtjuden kraft philosophischer Reflexion (zu­rück-)finden könnten. Aber auch in seiner Paränese gegenüber Jesusgläubigen verweist Paulus nur selten (und wenn, dann wie in 1Kor 11,2–16 missglückt) auf ein Naturgesetz (was Paulus über die mögliche Konvergenz jüdischer und griechisch-römischer Ethik in Phil 4,8 erkennen lässt, wird bei B. nicht bedacht), vielmehr auf den Heiligen Geist als Quelle und Norm des Handelns (die Ausführungen S. 123 zum Thema greifen zu kurz; Röm 8,5–17; 12,1 f. werden bei B. nicht genannt), der allein den Glaubenden die Erfüllung des Willens Gottes ermöglicht. Paulus steht übrigens mit dieser Konstruktion völlig auf dem Boden des antiken Judentums (vgl. 1QH XII 24–32).