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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

80–82

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Bae, Junghun

Titel/Untertitel:

John Chrysostom. On Almsgiving and the Therapy of the Soul.

Verlag:

Paderborn u. a.: Brill/Ferdinand Schöningh 2021. XIV, 207 S. = Patristic Studies in Global Perspective, 1. Geb. EUR 89,00. ISBN 9783506704856.

Rezensent:

Andreas Heiser

Die Patristik ist bisher noch eine Domäne mittel- und westeuropäischer Forschung, ihrer Vorlieben und Vorurteile. Der Notwendigkeit, diesen Eurozentrismus abzulegen, trägt die neue, interdisziplinär angelegte Reihe, »Patristic Studies in Global Perspective« Rechnung.
Den Auftakt gibt die 2018 bei Pauline Allen an der Australian Catholic University angefertigte PhD Thesis des koreanischen Theologen Junghun Bae. Er untersucht, wie der antiochenische Presbyter Chrysostomus (um 350–407 n. Chr.) Vorstellungen antiker philosophischer Therapie in die christlich-pastorale Sorge um »kranke Seelen« integriert, indem er sie um die Heilung und Heil erwirkende Liebe zu den Armen erweitert.
Einleitend nimmt B. Defizite der Forschung in dem zu geringen Fokus auf der Aneignung antiker Psychagogie wahr. In Kapitel 1 (49–91) stellt er auf ihrem Hintergrund die Sicht des Chrysostomus dar, dass Almosen-Geben die Krankheiten der Seele heile und ihre Gesundheit erhalte. In Kapitel 2 (92–135) analysiert B. die psychagogische Rolle der Eschatologie in Chrysostomus’ Vorstellung vom »psycho-therapeutischen« Geben von Almosen. In Analogie zu dem moralphilosophischen Einsatz von Lob und Tadel setze Chrysos-tomus die »sanfte« Rede von Belohnung und die »harte« Rede von Strafe ein und führe zusammen mit der Ermahnung zum Almosengeben den Verstand seiner Hörerinnen und Hörer zur Herrschaft über die Leidenschaften.
In Kapitel 3 (136–185) führt B. die Innovationen des Chrysostomus vor. Zum einen verorte er das Almosengeben auf der Grundlage der Exegese biblischer Zentraltexte (Dan 4,27 LXX, Prov 15,27 und Lk 11,41) in der Soteriologie (Vergöttlichung). Sodann kombiniere er das philosophische Konzept von der »Krankheit der Seele« und ihren Folgen mit der christlichen Vorstellung von Sünde und (zukünftiger) Strafe, die von der durch Almosengeben von Leidenschaften befreiten Seele abgewendet würden.
Neben den erfreulich präzisen Analysen der größtenteils den Hom. in Mt. und Jo. (38–45) entnommenen Chrysostomus-Texten fallen Probleme auf:
1. Die Forschung zu Armut, Reichtum und Almosengeben wird »holzschnittartig« nach der jeweiligen Perspektive des Gebens für die Armen (theologisch, asketisch, soziokulturell, philosophisch) (11–20) rubriziert, um dann die bislang nicht beachtete Perspektive der »philosophical soul therapy« (21) einzuführen.
Auch wenn B.s Analyse auf ein kohärentes Verständnis des Almosengebens im »Konzept der Heilung der Seele« (38) zielt, wird zugunsten der philosophischen Tradition zu sehr vernachlässigt, dass in allen Perspektiven jeweils Facetten der anderen enthalten sind.
2. B. führt die Vorstellung von den Krankheiten der Seele und ihren Therapien auf eine »griechisch-römische« Traditionslinie von Platon, Aristoteles, Epikur, Stoikern, Kynikern, Galen, Philo, Justin, Clemens von Alexandrien, Origenes und Gregor von Nyssa (27–32) zurück. Im weiteren Verlauf stellt er dann meist ausschließlich »die« griechisch-römische Philosophie als unmittelbar auf Chrysostomus einwirkend vor.
3. Freilich findet B. asketische Standards (Leidenschaften als Seelenkrankheiten) auch bei Seneca. Es bestehen aber keine materialen, sondern – wie beispielsweise in der Kontrolle der Begierden durch die Vernunft – lediglich phänomenologische Ähnlichkeiten zu Chrysostomus, was B. selbst festhält (51.168 f.178).
4. Weil B. kaum beachtet, dass Chrysostomus keine Texte von Platon, Cicero, Seneca (168–170) vorfindet, sondern in seinem antiochenisch-asketischen Kontext bereits christianisierte Vorstellungen rezipiert, wird die christliche Grundierung der Leidenschaften als »Dämonen« (z. B. 52 f., Anm. 23) nicht fruchtbar gemacht oder bei Vorstellung der zahlreichen Laster (70–84) kein Bezug zu asketischen Laster-Katalogen, die in der Mitte des 4. Jh.s in der Struktur platonischer Dreiteilung der Seele organisiert werden (frappant auch 184, Anm. 198), hergestellt. Erst spät schreibt B. wenige Zeilen dazu, dass es sich hier um »Dämonenkampf« handeln könne (82 mit Bezug auf de Wet; dazu Heiser 2012, 341–347). Diese mangelnde Tiefenschärfe ze igt sich auch bei der Vorstellung der Leidenschaften als »wilde Tiere«, in der die asketische Tradition des Antonius/Athanasius (167 f.) nicht eingebracht wird.
Zudem verstellt der Fokus auf »die« philosophische Tradition den Blick darauf, dass Chrysostomus den Maßstab des Christlichen vom »engelgleichen Leben« her entwirft (Brottier, L’appel, 2005, und Heiser, Paulusinszenierung, 2012, 289–371; 424–485), zu dem notwendigerweise die Besitzlosigkeit bzw. das Abgeben von Besitz gehört.
In Kürze: Chrysostomus lebt in einem asketisch-theologischen Setting (z. B. Clark, Reading renunciation, 1999), in dem philosophische Gedanken – wie man an dem Komplex von Hochmut und Demut als Heilmittel (7 f.69.118–121) hätte sehen müssen (69) – bereits in bestimmter Form christianisiert sind.
5. B. plädiert für ein wörtliches Verständnis der medizinischen Konzepte bei Chrysostomus (59–61). »Wenn die medizinische Sprache […] nur metaphorisch wäre, wäre die rhetorische Kraft der Predigt dramatisch reduziert […].« (60) Ich meine vielmehr: Auch für Chrysostomus gilt, dass über »seelische« Krankheiten nicht anders als »metaphorisch« zu reden ist.
6. Konkret wird die Frage nach metaphorischer Rede auch am Topos der Hölle. Hier braucht es weitere Forschung, denn B. verneint gegen Ilaria Ramelli (The christian doctrine of Apokatastasis, VigChr.S 120, 2013, besonders 549–564) zu schnell (149.151), dass Chrysostomus einen sophistischen Umgang mit der Rede von der Hölle pflegt, indem er über sie redet, damit niemand hineingerate (siehe beispielsweise Hom. in Phil. 6,6 [PG 62, 227,24–29; Field 5, 243BC]).
7. Die antiken und spätantiken Phänomene mit modernen medizinischen Begriffen zu belegen, wird B.s eigenem Anspruch der Unterscheidung des »emic/etic« (162) nicht gerecht. Die Rede von »behavioural therapy/treatment« (47 u. ö.), »cognitive therapy/ treatment« (69 u. ö.), »logotherapy« (173), »psychic therapy« (174 u. ö.), von »holistic therapy« (171 u. ö.), »philosophical-medical therapy« (136), von »psychtherapeutic speech« (80), vom »immune system« (86 u. ö.), vom »curative process« (131), von »diagnosis and prescription« (136) und dem »psycho-therapeutic almsgiving« (93 u. ö.) überfrachtet die antiken Phänomene mit komplexeren Erwartungen, als diese einlösen können. Zudem hat die Psychotherapie des 19. und 20. Jh.s andere Voraussetzungen, was B. richtig zeigt, wenn er die Seelenheilung bei Chrysostomus in der Gnade verortet.
8. B. erliegt der genreüblichen, zu engen Verschwägerung mit dem Untersuchungsgegenstand. Seine Paraphrasen unterscheiden sich in weiten Teilen kaum von Chrysostomus-Texten, was durch die permanente Einbeziehung der Leserinnen und Leser durch Personalisierungen mit »we«, »us« usw. gefördert wird. Entsprechend überschwänglich endet er mit der Aktualisierung: »Gib Almosen und Deine Seele wird gerettet.« (IX.190)
Auch wenn ich B.s Urteil teile, Chrysostomus-Texte besser aus der Sicht der »Theosis« (gut begründet mit Pak-Wah Lai u. a. [159]) als aus der Perspektive einer bestimmten Form der protestantischen Rechtfertigungslehre zu lesen, fällt es heute schwer, Almosengeben in der Soteriologie zu verorten (159–161).
Es bleibt B.s Verdienst, die Passagen herauszustellen, die den »therapeutischen« Gewinn des Almosengebens weniger bei den Empfängern, sondern bei den Gebern verorten (23). Sicher wird nun auf einer breiteren Quellenbasis zu prüfen sein, inwiefern die christianisierte Seelentherapie eine geeignete Methodologie für ein neues Lesen des spätantiken Diskurses zum Almosengeben (190) bereitstellen kann.