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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

78–80

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Ayres, Lewis, and H. Clifton Ward[Eds.]

Titel/Untertitel:

The Rise of the Early Christian Intellectual.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2020. XIII, 272 S. = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 139. Geb. EUR 86,95. ISBN 9783110607550.

Rezensent:

Johannes Zachhuber

Den Begriff des Intellektuellen, der heute allgemein gebräuchlich ist, gibt es noch nicht allzu lange. Im Englischen ist er zum ersten Mal bei Lord Byron bezeugt; in Frankreich bürgerte er sich im Zusammenhang der Dreyfusaffäre Anfang des 20. Jh.s ein, und in Deutschland popularisierte ihn um die gleiche Zeit Max Weber. Kann man angesichts dessen von Intellektuellen im antiken Chris-tentum sprechen? Und wenn ja, welches Phänomen hat man genau im Blick? Diese Fragen stellt der hier zu besprechende Band, der auf eine Tagung der Australian Catholic University in Rom im Jahr 2016 zurückgeht, zur Debatte. Der zeitliche Rahmen ist das 2. Jh., grob gesagt. Der früheste besprochene Autor ist der Verfasser der Apokalypse, sodann beschäftigen Beiträge sich mit den Apologeten, Papias von Hieropolis, Irenaeus und Clemens von Alexandria. Ein abschließender Text ist Eusebius von Cäsaraea gewidmet, reicht also ins frühe 4. Jh.
Die Texte sind insgesamt von hoher Qualität, und diese Rezension kann der in ihnen enthaltenen Vielfalt kaum gerecht werden. Hervorzuheben wäre die faszinierende Untersuchung von Matyáš Havrda zum Gedanken der intellektuellen Unabhängigkeit in christlichen Autoren und bei Galen. Hier werden die bekannten kritischen Äußerungen von Galen zum frühen Christentum noch einmal neu interessant. Der Arzt, der sich selbst philosophischen Schulbildungen gegenüber distanziert verhält, war sichtlich be­sorgt angesichts des, wie wir heute sagen würden, autoritären Charakters der jungen christlichen Religion. In deren Katechumenat, so sein Eindruck, würden Menschen instruiert, wie sie zu denken hätten. Der Verweis auf die Bibel und ihre Gebote ersetzte das kritische Nach- und Hinterfragen von Gegebenem. Hier wurden also im 2. Jh. Fragen an das Christentum gerichtet, die wir vielleicht eher mit der neuzeitlichen Religionskritik assoziieren würden. Der Begriff eines christlichen »Intellektuellen«, so ganz offensichtlich die Implikation, wäre Galen wie ein hölzernes Eisen vorgekommen.
In gewisser Weise das Gegenstück zu Havrdas Text im vorliegenden Band ist der Beitrag von Lewis Ayres. Nicht deshalb, weil Ayres sich polemisch auf Havrda oder auf Galen beziehen würde. Vielmehr geht es seiner Untersuchung des Konzepts einer regula veritatis bei Irenäus von Lyon darum, auszuloten, welche Form von Intellektualität möglich ist, wenn man sich gleichzeitig auf eine vorgegebene Offenbarung bezieht. Man könnte vielleicht zugespitzt sagen, dass es zwischen dem Galen von Havrdas Kapitel und dem Irenäus, wie er von Ayres vorgestellt wird, um den Unterschied von »autoritär« und »Autorität« geht, vergleichbar der Kontroverse, die in den 1960er Jahren zwischen Hans-Georg Gadamer und Jürgen Habermas ausgefochten wurde. Irenäus symbolisiert für Ayres die Möglichkeit eines die Verbindlichkeit der eigenen Tradition anerkennenden Intellektuellen, während für Galen eine solche Einstellung prinzipiell problematisch ist.
Ähnlich wie Galen vermittelt auch Celsus, ein platonischer Philosoph des 2. Jh.s, ein Außenbild der sich wachsender Beliebtheit erfreuenden neuen Religion. Während Galens Urteil abgewogen bleibt – er erkennt durchaus die ethische Ernsthaftigkeit der Chris-ten an –, steht bei Celsus die Kritik im Vordergrund. Wir kennen ihn überhaupt nur als den mutmaßlich ersten Verfasser eines detaillierten antichristlichen Traktats, Das wahre Wort, dem Origenes von Alexandria eine detaillierte Entgegnung gewidmet hat. Immer wieder wurde freilich gemutmaßt, dass es auch bereits im 2. Jh. christliche Antworten auf Celsus gegeben habe. Besonders die Apologeten Justin und sein Schüler Tatian fanden in dieser Hinsicht Beachtung. Hier setzt der exzellente Beitrag von Matthew Crawford ein, der eine parallele Rekonstruktion der Argumentationsgänge von Celsus und Tatian vorlegt. Auch hier wieder scheint die Frage nach christlichen Intellektuellen indirekt auf. Für Celsus stand fest, dass das Christentum mit seinen Wurzeln im Judentum intellektuell nicht satisfaktionsfähig war. Interessant aber ist, dass Tatian – vielleicht in Reaktion auf Celsus – für das Christentum den Begriff der »barbarischen« Philosophie neu prägte, der dann auch von Clemens Alexandrinus positiv aufgenommen wurde.
Äußerst erhellend ist auch der Beitrag von Azzan Yadin-Israel. Für ihn stellt sich die Leitfrage, wie aus der Welt des Urchristentums, in der es kaum Belege für die Bedeutung von »intellektueller Autorität« gibt, innerhalb von einem reichlichen Jahrhundert eine Institution entstand, in der »Intellektuelle« in diesem Sinn, wir könnten also sagen, Theologen, eine große Rolle spielten. Diese Frage ist schon oft gestellt und zumeist unter Hinweis auf eine innenchristliche Spannung zwischen Charisma und Institution beantwortet worden. Yadin-Israel allerdings findet diese Antwort zu einfach, denn er beobachtet dieselbe Tendenz in derselben Epoche auch im rabbinischen Judentum und mutatis mutandis auch im Heidentum. Es leuchtet ein, dass diese Gleichzeitigkeit eine rein binnenchristliche Deutung weniger plausibel macht. Yadin-Israel zeigt insofern exemplarisch die Bedeutung der viel zu selten ernsthaft praktizierten komparatistischen Erforschung der spätantiken Religion.
Für die Frage nach dem »Aufstieg« der christlichen Intellektuellen sind diese vier wahrscheinlich die wichtigsten Texte des Bandes. Ausgezeichnet ist auch der Beitrag von Gretchen Reydams Schils zur Verschmelzung platonischer und stoischer Elemente in Clemens von Alexandria. Für die Frage allerdings, inwiefern man christliche Denker des 2. Jh.s als Intellektuelle bezeichnen kann oder sollte, trägt er eher indirekt etwas aus.
Welche Antworten man auf die Frage nach christlichen Intellektuellen im 2. Jh. erhält, hängt also davon ab, woran man Intellektualität festmacht. Sieht man wie Galen geistige Unabhängigkeit als intellektuelle Kardinaltugend an, dann erscheint das Chris-tentum als eine fundamental anti-intellektuelle Religion – so hat es übrigens für das antike Christentum auch Max Weber gesehen, wie Christoph Markschies in seinem instruktiven Vorwort erklärt. Betrachtet man Intellektualität als Orientierung am (hellenistischen) Mainstream, wie es Celsus tat, dann erscheint das Christentum als barbarisch, wobei genau diese kulturkritische Haltung dann wiederum als Intellektualität sui generis umgedeutet werden konnte. Auch hierfür liegen moderne Parallelen auf der Hand. Versteht man schließlich den Aufstieg der Intellektuellen als die zu­nehmende Dominanz einer Bildungselite, die durch ihre systematisch-reflektierende Sicht auf die Welt der Religion ihren Stempel aufdrücken kann, dann kann die Entwicklung des Christentums im 2. Jh. als exemplarischer Fall religiöser »Intellektualisierung« begriffen werden.
Der Band votiert für keine dieser Begriffsbestimmungen und gibt insofern auch keine eindeutige Antwort auf das Phänomen frühchristlicher Intellektualität. Seine thematische Auswahl ist auch nicht erschöpfend. Was ist mit dem Verhältnis von Christentum und der rhetorischen Tradition, die für die gesamte Antike Intellektualität normiert hat? Und hätten die gnostischen Lehrer, die oftmals als die paradigmatischen Intellektuellen der Frühzeit des Christentums gesehen wurden, nicht ein Kapitel verdient ge­h abt? Hier gibt es Raum für weitere Untersuchungen. Dass man aber am Ende gern mehr erfahren will, zeigt die Bedeutung des Phänomens, das hier in den Blick genommen wird. Von den im besten Sinn intellektuellen Anregungen des Bandes kann der Leser lange zehren.