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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

49–51

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Bons, Eberhard [Ed.]

Titel/Untertitel:

Historical and Theological Lexicon of the Septuagint. Vol. I: Alpha – Gamma.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. CLXIII, 990 S. Lw. EUR 289,00. ISBN 9783161507472.

Rezensent:

Markus Witte

Seit rund vierzig Jahren befindet sich die Septuagintaforschung in einer besonderen Blüte. Befördert durch die Schriftfunde vom Toten Meer, partizipiert sie an einem die Bibelwissenschaften insgesamt prägenden neuen Interesse an der Textgeschichte, an der Vielfalt des frühjüdischen und frühchristlichen Schrifttums, an der Kulturgeschichte der hellenistisch-römischen Zeit sowie an frühjüdischen und frühchristlichen Identitätsdiskursen. Auch wenn die kritische (eklektische) Ausgabe des 1908 gegründeten Göttinger Septuaginta-Unternehmens immer noch nicht abgeschlossen ist, so gibt es inzwischen zahlreiche, mitunter (knapp) kommentierte Übersetzungen der Septuaginta ins Deutsche, Englische, Französische, Italienische und Spanische, gezielt dem Griechisch der Septuaginta gewidmete Wörterbücher und Grammatiken sowie umfangreiche Einführungen und Handbücher. Darüber hinaus sind Kommentare im Entstehen, welche die einzelnen Bücher der Septuaginta als selbstständige literarische Werke mit einem eigenen theologischen Profil auslegen. Das hier vorgestellte Lexikon steht im Kontext der besonderen Thematisierung der Septuaginta und leistet gleichzeitig einen gewichtigen Beitrag nicht nur zur Septuagintaforschung im engeren Sinn, sondern auch zur Judaistik, zur neutestamentlichen Wissenschaft, zur frühchristlichen Theologiegeschichte und zur Gräzistik.
Herausgegeben von dem Straßburger römisch-katholischen Alttestamentler Eberhard Bons bietet der hier angezeigte erste Band eines auf vier Bände angelegten Werks neben einer Einführung in die Sprache der Septuaginta, einer Übersicht über die Anlage des Gesamtwerks und umfangreichen Abkürzungs- und Literaturverzeichnissen (XI–CLXIII) auf 1980 Spalten die ersten 157 Lemmata und ihrer jeweiligen Derivate. Bis Juni 2020 wurde Bons in der Herausgeberschaft noch durch den Oxforder Alttestamentler Jan Joosten unterstützt. Daneben standen Bons sieben Fachberater für die Bereiche Septuaginta (James K. Aitken, Cambridge, UK), Lexikographie (Erik Eynikel, Regensburg), pagane griechische Literatur (Christoph Kugelmeier, Saarbrücken), Neues Testament (Tobias Niklas, Regensburg), Papyrologie (Anna Passoni Dell’Acqua, Mailand), frühchristliche Literatur (Emanuela Prinzivalli, Rom) und frühes Judentum (Michael Segal, Jerusalem), ein zehnköpfiges Redaktionsteam sowie fünf Mitarbeiter, die einzelne Artikel ins Englische übersetzten, zur Seite. Für die Bearbeitung der einzelnen Artikel zeichnen Autoren und Autorinnen aus Europa, Israel, den USA und Kanada, Australien und Zentralafrika verantwortlich, darunter viele Persönlichkeiten, welche die Septuagintaforschung seit mehreren Jahrzehnten bestimmen, aber auch zahlreiche jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Die einzelnen Beiträge umfas sen durchschnittlich 12,5 Spalten, im Fall ganz zentraler Wörter (z. B. ἀγαπάω, ἄδικος, αἷμα, ἀλήθεια, ἄνθρωπος oder βασιλεύς) auch 30 bis 40 Spalten.
Das HTLS zielt auf eine sprach-, traditions- und rezeptionsgeschichtliche Erhellung wichtiger Wörter und Wortgruppen der Septuaginta. Gegenüber den zwei großen aktuellen Wörterbüchern zum Griechisch der Septuaginta, dem von J. Lust, E. Eynikel und K. Hauspie herausgegebenen Greek-English Lexicon of the Septuagint (1992; 32015, 528 Seiten) und dem von T. Muraoka bearbeiteten Greek-English Lexicon of the Septuagint (2009, 757 Seiten), die den gesamten Wortschatz der Septuaginta bieten und dabei ohne zeitliche Differenzierung auf Semantik und Statistik konzentriert sind, bietet das HTLS eine bewusste Auswahl von Lemmata, die eine besondere Bedeutung für die Sprache der Septuaginta, für ihre Theologie sowie für das frühjüdische und das frühchristliche Schrifttum haben und die dann ausführlich diachron und synchron behandelt werden.
Das im HTLS unter dem Sammelbegriff »Septuaginta« erfasste Schriftcorpus ist aus pragmatischen Gründen das in der Handausgabe von Alfred Rahlfs (1935; editio altera R. Hanhart 2006). Jeder Eintrag ist identisch aufgebaut. Zunächst werden der Gebrauch des Wortes bzw. der Wortgruppe im paganen Griechisch vorgestellt, wobei auch die Etymologie (speziell von Neologismen) und die griechische Literaturgeschichte von Homer und Hesiod bis zur Zweiten Sophistik berücksichtigt werden (1). Sodann werden die Belege in Papyri und Inschriften vorgestellt (2). Es folgt die Darstellung des Gebrauchs in der Septuaginta selbst, untergliedert in einen Abschnitt zur statistischen Verteilung der Belege, zu den hebräischen und aramäischen Äquivalenten in den der Übersetzung zugrundeliegenden Basistexten sowie zur spezifischen Be­deutung und Verwendung in der Septuaginta (3). In einem weiteren Abschnitt wird der Gebrauch in jüdischen, auf Griechisch verfassten Texten, näherhin in den Pseudepigraphen zum Alten Testament, bei Philon von Alexandria und bei Flavius Josephus, behandelt (4). Zwei weitere Teile befassen sich mit den Belegen im Neuen Testament (5) und mit denen im frühchristlichen Schrifttum, in der Regel bis zum 2. Jh. n. Chr., gelegentlich bis zu Clemens Alexandrinus und zu Origenes (6). Eine knappe Bibliographie beschließt jeweils die namentlich gekennzeichneten Artikel.
Das HTLS verdeutlicht eindrücklich die Teilhabe der Übersetzer der Septuaginta an der Sprache ihrer Zeit, und zwar hinsichtlich literarischer Texte, die zum hellenistischen Bildungskanon gehörten, und hinsichtlich der Alltagssprache, wie sie sich in Inschriften, Verträgen, Graffitis, Briefen und Wirtschaftsurkunden, zumal im ptolemäischen Ägypten, niedergeschlagen hat. Zugleich zeigt das Lexikon dialektale, regionale und zeitgeschichtliche Unterschiede der Übersetzer und legt deren unterschiedliches sprachliches und literarisches Niveau frei. Es erklärt die Spezifika einzelner Begriffe der Septuaginta im Lichte des sprach- und traditionsgeschicht-lichen Hintergrundes, der Übersetzungstechnik sowie bestimm-ter hermeneutischer und exegetischer (häufig halachischer) Tendenzen.
Damit demonstriert das HTLS die besondere Leistung der Septuagintaübersetzer bei der Begründung einer jüdischen griechischen Literatur und bei ihrer Übertragung israelitisch-jüdischer Vorstellungen in eine Griechisch sprechende Welt. Anhand der Wortwahl der Übersetzer lässt sich mitunter ablesen, wie diese auf der Basis des Koiné-Griechisch und eines schon vor der Septuaginta bestehenden jüdisch-griechischen Soziolekts Grundlagen für hellenistisch-jüdische Identitäten und Diskurse legten.
Mit dem HTLS wird eine lexikographische Lücke geschlossen, welche die auf die Hebräische Bibel, das Neue Testament oder das Qumranschrifttum beschränkten theologischen Wörterbücher hinterlassen hatten (vgl. Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament [1971.1975, 62004], Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament [1973–2001], Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament [1980–1983; 32011], Theologisches Wörterbuch zu den Qumrantexten [2011–2016]). Schließlich führt das HTLS erheblich über das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament (1933–1978) hinaus, insofern es erstens die Aufnahme der Lemmata nun nicht vom Neuen Testament, sondern von der Septuaginta her bestimmt, zweitens den sprachlichen Referenzrahmen vor allem im Bereich der dokumentarischen Texte auf den gegenwärtigen Forschungsstand bringt sowie drittens die hermeneutischen Defizite gerade der frühen Bände des ThWNT überwindet.
So steht mit dem HTLS ein beeindruckendes, auch in typographischer Hinsicht sehr ge­lungenes Werkzeug für die Exegese der Septuaginta zur Verfügung, dem trotz seines sehr hohen Preises eine weite Verbreitung und ein baldiger Abschluss der drei Folgebände zu wünschen ist.