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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

43–45

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Bühner, Ruben A.

Titel/Untertitel:

Hohe Messianologie. Übermenschliche Aspekte eschatologischer Heilsgestalten im Frühjudentum.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XIV, 394 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 523. Kart. EUR 94,00. ISBN 9783161596063.

Rezensent:

Johannes Zimmermann

Die Frage nach frühjüdischen messianischen Erwartungen ist seit Langem ein Thema der neutestamentlichen Forschung. Nachdem durch die Qumrantexte die Quellenbasis in der Frage nach der religionsgeschichtlichen Herkunft der Χριστός-Bezeichnung nochmals deutlich ausgeweitet wurde, geht Ruben A. Bühner in seiner Züricher Dissertation auf dieser Grundlage wiederum einen Schritt weiter und wendet sich der »Hohen Messianologie« zu. Dazu un-­tersucht er alle frühjüdischen Texte, »in denen unabhängig von der frühen Jesusbewegung eine eschatologische Heilsgestalt Gottes mit Aspekten beschrieben wird, die das gemein Menschliche überschreiten« (11). Die Arbeit an den Texten verbindet er mit der Ab­sicht, »die frühjüdische Sprachmatrix sowie den Raum der Denkmöglichkeiten zu erschließen, innerhalb dessen und derer die frühe Hochchristologie sowohl ihren Kontext als auch ihre Plausibilität besitzt« (11). Da Gesalbtenterminologie für »eschatologische Heilsgestalten« nicht konstitutiv ist, handelt es sich bei der Be­zeichnung »Messias« ebenso wie beim Fokus auf »übermenschliche Aspekte« um moderne Forschungskategorien.
Methodisch plausibel erweist sich die Entscheidung, die Texte nicht nur »in ihrem anfänglichen Verwendungszusammenhang« (»messianische Texte erster Ordnung«), sondern auch im Blick auf ihre Rezeptionsgeschichte und eine mögliche messianische Relecture (»messianische Texte zweiter Ordnung«) zu untersuchen (27). Das betrifft vor allem alttestamentliche Texte sowie deren Übersetzung und Auslegung durch die Septuaginta.
Die Texte werden jeweils nach einem ähnlichen Raster ausgelegt: Es geht um räumliche (irdische und himmlische Sphäre) und um zeitliche Vorstellungen (Frage nach der Präexistenz); außerdem um die Messianität. Dort kommen titulare (Frage nach der Terminologie) und funktionale Aspekte (konkrete Aufgabe und Tätigkeit) in den Blick, weiter intertextuelle Aspekte, konkret die Frage, ob ein deutlicher Bezug auf Texte vorhanden ist, die an anderer Stelle »messianisch« rezipiert werden.
Aufgeteilt sind die Texte in vier thematische Gruppen (Kapitel 2–5): Zunächst geht es um »präexistente und mit der Schöpfung verbundene eschatologische Heilsgestalten« (Kapitel 2, 30–106). Hier liegt der Schwerpunkt bei biblischen Texten: Ps 72(71LXX), Ps 110 (109LXX), Mi 4,14–5,3; Am 4,13LXX und Thr 4,20. Der Vf. sieht in diesen Texten nur eine »relative Präexistenz« von der messianischen Heilsgestalt ausgesagt, gleichwohl »beschreiben alle diese Texte die eschatologische Heilsgestalt in einer über die normale menschliche Existenz hinausgehenden Dimension« (325).
Zweites Thema sind »der danielische ›Menschensohn‹ und da­mit verwandte eschatologische Heilsgestalten« (Kapitel 3, 107–196). Hier geht es nach einem Blick auf Dan 7 schwerpunktmäßig um die Wirkungsgeschichte in den Bilderreden des 1Hen, in 4Esr, 2Bar, Sib V und EzTrag 68–89. Bei aller Unsicherheit im Blick auf einzelne Texte zeigen sie doch insgesamt, »dass die messianische Interpretation von Dan 7,13 f. im Frühjudentum mindestens gängig, wenn nicht sogar vorherrschend war« (325).
Dritte Gruppe sind »divine beings« bzw. »engelhafte und göttliche eschatologische Heilsgestalten« (Kapitel 4, 197–273). Biblische Referenzen sind vor allem Jes 9,5 f. und Ps 45(44LXX), die wichtigsten frühjüdischen Texte sind 11QMelchizedek, 4Q491c (»Self-Glorification Hymn«) und AssMos 10,2. Bei 11QMelch tendiert er gegen Teile der bisherigen Forschung dazu, den »Gesalbten des Geist[es]« mit Melchizedek zu identifizieren.
Diese »Angelologisierung« messianischer Erwartungen lässt sich »auch im Kontext von Vorstellungen über einen Widersacher Gottes plausibilisieren« (327). Weil dieser als übermenschliche Gestalt wie z. B. Belial dargestellt wird, wird auch der »Gegenspieler« im selben Format gezeichnet. Auch in dieser Textgruppe bleibt der messianische Charakter einzelner Texte unsicher, aber im Gesamtbild gehen menschliche und »engelhafte«, teils auch göttliche Züge und Eigenschaften ineinander über; die Grenze zwischen Menschen und Engeln verschwimmt; ein »messianischer« auf der einen und ein »engelhafter« oder »himmlischer« Charakter auf der anderen Seite schließen sich nicht gegenseitig aus (328 u. ö.). Hier wird weiter zu erörtern sein, ob und inwieweit das auch bei der expliziten Verwendung von Gesalbtenterminologie der Fall ist.
Schließlich kommen in Kapitel 5 als vierte Gruppe »eschatologische Heilsgestalten« als »Sohn Gottes« und »von Gott gezeugt« in den Blick (274–322). Biblische Ausgangstexte sind dabei Ps 2, 2Sam 7 und Jes 7,14; von diesen aus werden 4Q174 (4QMidrEschata) und 4Q246 (der »Sohn Gottes«) ausgelegt; ein Seitenblick geht zu 4Q369 (Erstgeborener Sohn?), 1QSa II,11 f. (»Gemeinschaftsregel«) und SybOr III, 652–656. Da der Vf. die Frage nach dem »Sohn Gottes« als messianischer Gestalt in 4Q246 offen lässt, lässt sich für ihn nur 4Q174 mit Sicherheit der gesuchten Kategorie zuordnen.
Für die gesamte Arbeit zieht der Vf. in Kapitel 6 das Fazit: »In der Summe ergibt die vorliegende Untersuchung ein beeindruckendes Panorama dessen, wie sehr […] in frühjüdischen messianischen Diskursen unabhängig von der frühen Jesusbewegung bereits eine eschatologische Heilsgestalt in starker Nähe zu Gott bezeichnet werden konnte«. Dabei »erscheinen auch die vielfältigen übermenschlichen Aspekte eschatologischer Heilsgestalten zu frühjüdischer Zeit keineswegs als Fremdköper« (330).
Die Frage, ob sich eine »proto-binitarische« oder göttliche messianische Erwartung bereits vorchristlich findet, lässt er offen und verweist auf Probleme einer »engen und vereinheitlichenden Definition« der Grenzen »zwischen Gott und nicht-Gott« (335) in den frühjüdischen Texten. Ein negatives Urteil fällt er auch im Blick auf die Systematisierbarkeit der Vorstellungen und die Möglichkeiten der Rekonstruktion einer historischen Entwicklung (336).
Trotz bedeutender Unterschiede zwischen der neutestamentlichen Hochchristologie und frühjüdischen messianischen Erwartungen macht es wenig Sinn, beide nur im Gegensatz zueinander zu sehen (338). Vielmehr ist für den Vf. erstere »vollständig – d. h. inklusive ihrer Weiterentwicklungen – als Teil des frühjüdischen Diskurses zu kontextualisieren und zu plausibilisieren« (340).
Dem Vf. geht es bei alledem nicht darum, etwas zu »beweisen« oder auf bestimmten Auslegungen zu insistieren, vielmehr will er Denkmöglichkeiten erkunden. Dabei bewegt er sich souverän im breiten Feld der unterschiedlichen Texte und der damit verbundenen weltweiten Forschung. Seine Resultate liegen häufig nahe bei denen von J. J. Collins, der immer wieder abschließend und zustimmend zitiert wird. Die zum Verständnis nötigen Fragen werden erörtert, der Vf. fokussiert sich aber auf die für seine Fragestellung zentralen Themen. In einer gründlichen Exegese der Einzeltexte greift er auf weithin anerkannte Ergebnisse zurück und lässt im Zweifelsfall die eine oder andere Frage offen. Es geht ihm nicht um einzelne umstrittene Texte, sondern um das Gesamtbild, das er plausibel machen kann. Durch den Überblick über die Texte einschließlich der neueren Forschung hat die Arbeit das Potenzial, zum Standardwerk zu avancieren.