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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

38–40

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Sinn, Simone, El Omari, Dina, u. Anne Hege Grung [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Heilige Schriften heute verstehen. Christen und Muslime im Dialog.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020. 216 S. = LWB-Dokumentation, 62. Kart. EUR 20,00. ISBN 9783374054633.

Rezensent:

Rüdiger Braun

Wie bereits im Buchtitel mit den Signifikanten »heute« und »Dialog« markiert, richtet der insgesamt 15 Beiträge umfassende Sammelband sein analytisches Interesse auf transformative Lesarten der Bibel und des Koran, wie sie sich im Kontext zeitgenössischer interreligiöser Schrifthermeneutik beobachten lassen. Angesichts der geschichtlichen und theologischen Wechselbeziehung zwischen Tanach, Bibel und Koran ist eine solche Hermeneutik, wie Simone Sinn in ihrer Einleitung (9–16) betont, als »polyzentrisches Unterfangen« (10) zu verstehen, das unterschiedliche Zeiträume, Perspektiven und Zielsetzungen in einem mehrstufigen Exegeseverfahren zu verbinden und so neue Interpretationsräume bzw. »neue Möglichkeiten des Verstehens« (14) zu erschließen sucht. Der Sammelband selbst stellt sich der damit verbundenen Aufgabe in drei Abschnitten (Heilige Schriften im Dialog lesen/I, Transformative Lesarten des Koran/II und der Bibel/III) und eröffnet die hier nur ausschnittsweise vorgestellte Reflexion mit einem Beitrag zum »Umgang mit problematischen Texten« (17–30), in dem Oddbjorn Leirvik die durch den interreligiösen Dialog generierte »Aufweichung im interreligiösen Diskurs« (18) u. a. mit der modernen Aufwertung der Leser begründet, die Leser »den Text moralisch anreichern« und in ihrer kritischen Reaktion als Teil eines »Prozesses der Offenbarung« (26) ernstgenommen werden. Ein jeder Zugang zum Text erfolge, so resümiert auch Anne Hege Grung in ihren Reflexionen über »Das Entstehen einer transformativen Hermeneutik durch das gemeinsame Lesen biblischer und koranischer Texte« (31–40), »von der Gegenwart des oder der Lesenden aus« und ermögliche so ein Verständnis seiner ursprünglichen Botschaft als »eine der Geschlechtergerechtigkeit« (37 f.). Nach dem von Nicholas Adams vorgelegten, im Titel bereits die These enthaltenden Beitrag zur »Zurückstellung von Fachwissen beim Scriptural Reasoning« (61–70) präsentieren Katja Drechsler und Thorsten Knauth »Auf dem Weg zu einer dialogischen Theologie« (71–84) ein an der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg entwickeltes Konzept, das in Form von »Auslegungsgesprächen« (73) ausgewählte »religiöse Schlüsseltexte« (z. B. zur Frage religiöser Alterität) dialogisch diskutiert und dabei u. a. ein neues Verständnis von »Islam« als »ein universelles und individuelles Prinzip der Beziehung zwischen Mensch und Gott« (76) ermöglicht.
In einem den zweiten Buchabschnitt (Lesarten des Koran) eröffnenden Beitrag zur »Entwicklung der Islamischen Theologie im europäischen Kontext« (85–96) stellt Safet Bektovic selbstkritisch fest, »der Einfluss des Westens bzw. die säkulare Organisation der Gesellschaft« habe die Muslime zwar dazu »gezwungen, neue und alternative Formen der Praxis des Islams und neue Interpretationen einer islamischen Normativität zu suchen« (90), doch sei der »wirkliche Einfluss [dieser Interpretationen, R. B.] auf die Mehrzahl der muslimischen Bevölkerung« (94) bislang noch gering. Umso mehr sieht sich Mouhanad Khorchide in seinem anschließenden Beitrag »Der Koran als ein Akt der Kommunikation« (97–106) dazu herausgefordert, moderne Zugänge zum Koran auch theologisch zu legitimieren. Die Barmherzigkeit Gottes befähige den Menschen – aufgrund des ihm eingegebenen göttlichen Geistes – nicht nur dazu, »direkt mit Gott zu kommunizieren« (101). Sie stelle als Kriterium einer dynamischen Exegese zugleich einen »Schutz gegen inhumane Interpretationen« dar (105).
Zurückhaltender argumentiert Sahiron Syamsuddin in seinem Beitrag zum »Koran über den exklusiven religiösen Wahrheitsanspruch« (107–118), in dem er zunächst exklusive, der »Rechtfertigung von Diskriminierung von anderen« dienende Wahrheitsansprüche einer scharfen Kritik unterzieht und dann auf dem Wege einer an Fazlur Rahmans double movement orientierten Methode der Bedeutungsübertragung eine die Inklusivität des koranischen Wahrheitsanspruchs bestärkende Analyse der Verse 2,111–113 vornimmt. Auch Dina El Omari liest in ihrem Beitrag »Adam und Eva aus der Perspektive einer heutigen feministischen Koranexegese« (119–128) den koranischen Textbestand (hier die Schöpfungsgeschichte) »im Lichte dessen, was die Exegeten als den Kern des Korans bezeichnen: Gerechtigkeit und Gleichheit für alle Menschen« (125) und übt dabei scharfe Kritik an misogynen Interpretationen desselben. Die moderne Exegese hätte mittlerweile »einen festen Grund für ihre These gelegt, dass die universelle Position des Korans die der Gleichheit von Mann und Frau ist« (128).
Ein sich transformativen Lesarten der Bibel widmender dritter Buchabschnitt wird von Clare Amos eingeleitet, die in ihrem Beitrag zu »Die Genesis lesen – Eine Einladung zum Dialog« (157–170) über die Analyse einschlägiger Erzählungen der Genesis zum einen auf »verschiedene Aspekte der Gott-Mensch-Beziehung«, zum anderen auf die durch Gottes Machtbegrenzung erst geschaffene »Möglichkeit einer wirklichen Beziehung« (162) zwischen Gott und Mensch aufmerksam macht. Weniger einschlägige als vielmehr »randständige Texte« sind es, die Marianne Kartzow in ihrem Beitrag »Der Umgang mit Heiligen Schriften: Neues Testament, Alterität und Intersektionalität« (189–202) analysiert. Orientiert am sozialgeschichtlichen Ansatz der Intersektionalität entdeckt sie in diesen Texten (vgl. Apg 16,16 ff.) Modelle für »Interaktion und Engagement«, die »nicht Akte des ›othering‹ sind, sondern Hoffnung erzeugen« (198).
In der Gesamtschau erscheinen, das zeigt der Sammelband mehr als eindrücklich, dem generativen und damit transformativen Potential einer von Kontextualität, Dialogizität und Intersektionalität bestimmten interreligiösen Schrifthermeneutik kaum Grenzen gesetzt. Die damit aufgeworfenen Fragen, in welchem Maße sich dabei zugleich die Sperrigkeit und Fremdheit (spät)antiker Schrifttraditionen würdigen lässt, werden im Band selbst nicht weiter reflektiert. Doch ist der Einblick in gegenwärtige interre-ligiöse Auslegungspraktiken, den er ermöglicht, bereits gewinnbringend genug.