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Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1259-1262

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Kraml, Martina, Sejdini, Zekirija, Bauer, Nicole, u. Jonas Kolb

Titel/Untertitel:

Konflikte und Konfliktpotentiale in interreligiösen Bildungsprozessen. Empirisch begleitete Grenzgänge zwischen Schule und Universität.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020. 245 S. m. 5 Abb. = Studien zur Interreligiösen Religionspädagogik, 3. Kart. EUR 28,00. ISBN 9783170354906.

Rezensent:

Thorsten Knauth

An verschiedenen Hochschulorten werden derzeit Kooperationen in der Ausbildung islamischer und christlicher Religionslehrer und -lehrerinnen etabliert. Von ihnen werden neben Wissen über andere Religionen auch Kompetenzen für die Gestaltung interreligiöser Lerneinheiten erwartet. Wie diese Kompetenzen in der Ausbildung an der Universität aufgebaut werden, welche Erfahrungen Studierende und Lehrende mit kooperativen Lernformen und Seminarformaten sammeln und welche Schwierigkeiten, Barrieren und Konflikte auftreten können, ist bislang kaum erforscht worden. Dieser Forschungslücke nimmt sich die vorliegende von Forschern und Forscherinnen der Institute für Katholische und Islamische Theologie an der Universität Innsbruck erstellte interdisziplinäre und mehrperspektivisch angelegte Studie an.
Die Voraussetzungen für diese Studie können als günstig be­zeichnet werden. Seit sieben Jahren gibt es in Innsbruck einen Bachelorstudiengang Islamische Religionspädagogik und eine Ko­operation mit der katholischen Religionslehrerbildung. Vor allem die schulpraxisbezogenen Anteile des Studiums und die konzeptionell-didaktische Vorbereitung werden in gemeinsamer Verantwortung von Islamischer und Katholischer Religionspädagogik ab­solviert. Schulpraktikum und religionsdidaktische Vorbereitungsseminare sind nun das religionspädagogische Handlungsfeld für eine qualitativ-empirische Forschung, mit der an der Schnittstelle zwischen universitärer Ausbildung und schulischer Praxis interreligiöse Lernprozesse und die in ihnen auftretenden Schwierigkeiten und Konflikte analysiert werden können.
Bewusst wird die Fragestellung auf eine Dimension gerichtet, die für die Tragfähigkeit und Nachhaltigkeit interreligiöser Kooperation bedeutsam ist. Die Autoren und Autorinnen der Studie teilen die Überzeugung, dass Konflikte in interreligiösen Bildungsprozessen unumgänglich sind, aber eben auch wahrgenommen, analysiert und bearbeitet werden sollten.
Im ersten Abschnitt des Buches wird in drei Kapiteln auf knapp 100 Seiten der Forschungsstand zu Interreligiosität und Religion und Konflikt zusammengefasst und die theoretische Perspektive für das Forschungsfeld entwickelt. Aus mehreren, in der Forschergruppe vertretenen disziplinären Perspektiven werden die Themen Religion und Konflikt, Identität, Religionspädagogik und Religionsdidaktik sowie interreligiöse Bildung/ interreligiöses Lernen auch in ihrer Relevanz für die Auswertung des Datenmaterials reflektiert. Zugrunde gelegt wird ein weit gefasster sozialpsychologisch di­mensionierter Konfliktbegriff, der über die analytische Unterscheidung zwischen Etablierten und Außenseitern (Norbert Elias und John L. Scotson) auch auf die Untersuchung von macht- und herrschaftskritischen Aspekten geöffnet wird. Die Autoren und Autorinnen orientieren sich zudem an einem sozialkonstruktivis-tischen Verständnis von Identität, mit dem Entwicklungen zu hybriden und multiplen Identitäten – auch im religiösen Bereich – Rechnung getragen wird. Und im Blick auf die interreligiöse Bildung wird ihre Verbindung mit den Diskursen zum interkultu-rellen Lernen hergestellt, so dass ein zuschreibungskritisches Verständnis leitend wird, das erlaubt, Kulturalisierungen, Ethnisierungen und Religionisierungen entgegenzuwirken und den An­schluss an intersektionale Perspektiven herzustellen.
Auf diese Weise formiert sich eine kritische theoretische Perspektive, die wahrnehmungsfähig für die Alltäglichkeit von interreligiösen Interaktionen (nicht nur) in Bildungskontexten ist und auch die in den Interaktionen und Deutungsmustern sichtbaren Effekte von gesellschaftlich wirksamen Vorurteilsstrukturen und Ungleichheiten transparent machen kann.
Die qualitative Forschung ist als mehrperspektivische Interview-Studie angelegt, die die Sichtweisen und Erfahrungen der verschiedenen Akteursgruppen ermittelt. Über den Zeitraum von drei Studienjahren (2014–2017) wurden 40 problemzentrierte Leitfadeninterviews sowie Gruppengespräche durchgeführt und Methoden der Evaluation von Lehrveranstaltungen eingesetzt. Die erhobenen Daten wurden nach den Verfahrensschritten der Grounded Theory ausgewertet. Befragt wurden Lehrer und Lehrerinnen, Dozierende und Studierende katholischen und islamischen Hintergrundes zu Erfahrungen mit den kooperativ durchgeführten Ausbildungssequenzen an der Universität und während des schulischen Praktikums. Eingebettet in eine sorgfältige Schilderung der spezifischen kontextuellen Bedingungen, werden je drei Konfliktherde an Schule und Universität herauspräpariert, die im Blick auf Ursachen und Einflussfaktoren, Umgangsformen und Interaktionen analysiert sowie in ihren Konsequenzen reflektiert werden.
Die Ergebnisse ergeben ein komplexes Bild, bei dem sich deutlich zeigt, dass der Faktor Religion über die Konstruktion von Wir-Ihr-Schemata mit entsprechenden In- und Outgroups ein entscheidender Konfliktfaktor sein kann. Aber durchaus nicht immer bestimmt Religion die Konflikte im Feld. Die Studie arbeitet heraus, wie konfliktbildend Gruppenkonstellationen, Interaktionsstile, geschlechtsbezogenes Dominanzverhalten, asymmetrische Rollenverteilungen sein können und wie sehr eine inklusive Gruppendynamik mit wechselnden Rollen, transparenten Absprachen und ein offenes Kommunikationsverhalten zu einem produktiven Umgang mit Unterschieden beitragen kann. Die Ergebnisse helfen, den Blick auf das Feld von Interreligiösem Lernen und Konflikt zu erweitern. Häufig handelt es sich weniger um interreligiöse Konflikte als vielmehr um Konflikte, die in einem interreligiösen Kontext auftreten. Dass Spannungen in diesem Setting wiederum aus normativen Vorstellungen, strukturellen Asymmetrien und entsprechenden Einstellungen zu Aufgaben von Religionsunterricht und interreligiöser Bildung entstehen, zeigt die Studie sehr aufschlussreich. Besonders am Schauplatz Schule kommt die Be­ deutung kirchlich-konfessioneller Rahmenbedingungen und ihrer normativen Vorgaben für konfessionellen Religionsunterricht zum Tragen, über die Innen- und Außenperspektiven konstruiert werden und die Beteiligungsmöglichkeiten asymmetrisch gestalten. Planung und Durchführung der Praxisphasen waren von der strukturellen Schieflage bestimmt, dass das Schulpraktikum ausschließlich im katholischen Religionsunterricht durchgeführt und nur von einer katholischen Religionslehrkraft begleitet wurde. Befürchtungen, der interreligiöse Charakter könne zulasten katholischer Themen gehen, führten außerdem dazu, dass sich die muslimischen Studierende auf allgemein ethische und didaktisch-methodische Elemente beschränken mussten. Diese Unwucht wirkte sich insgesamt auf Interaktionen, Inhalte und Planungsprozesse der Ausbildungssequenz aus und war ein potenzielles Konfliktfeld. Denn wenn symmetrische Voraussetzungen, gleichberechtigte Teilnahme und Teilhabe auf Augenhöhe impliziter Maßstab und Erwartungshorizont der interreligiösen Kooperation sind, werden Diskrepanzen und Unausgewogenheiten zwischen den islamischen und katholischen Bestandteilen der Kooperation umso schärfer wahrgenommen. Zu Recht schlussfolgern die Autoren und Autorinnen, dass sich hier letztlich auch gesellschaftlich gefestigte Ungleichheiten der Religionen widerspiegeln können (vgl. 183). Darüber hinaus zeigt sich auch in dieser Studie das be­kannte Spannungsfeld unterschiedlicher Verständnisse des Verhältnisses zwischen konfessioneller bzw. religiöser Identität(sentwicklung) und interreligiöser Bildung. Diese Spannung bestimmt auch die Rolle von Religion in der Schule, beeinflusst die Ziele und Themen interreligiösen Lernens und kann auch Konfliktpotenziale »rund um die didaktische Konzeption« (225) in sich bergen. Ob interreligiöses Lernen konfessionelle Identität fördert oder bedroht oder vielleicht sogar ›Dritte Räume‹ eröffnen kann, bleibt ein kontroverses Thema.
Diese knappen Hinweise mögen verdeutlichen, dass die Studie mehr ist als die Evaluation eines Pilotprojektes der universitären Religionslehrerbildung. Nicht trotz, sondern wegen ihres Situa-tions- und Kontextbezuges liefert sie einen aufschlussreichen Beitrag zur Exploration von Faktoren, die in interreligiös und kooperativ angelegten Bildungssettings zu berücksichtigen sind. Qualitative Religionsforschung muss sich auf konkrete Kontexte einlassen, um die wechselseitige Beziehung und Einflussnahme zwischen Handlungsfeld und Kontext analytisch aufzuhellen. Tatsächlich gelingt es der Studie, die im Innsbrucker Kontext liegenden strukturellen Voraussetzungen und Konstellationen wie auch gesellschaftlich relevante Aspekte interreligiös angelegter Bildungsprozesse in den Blick zu bekommen.