Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1240-1242

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Rosa, Hartmut

Titel/Untertitel:

Unverfügbarkeit.

Verlag:

Wien u. a.: Residenz Verlag 2018 (7. Aufl. 2020). 136 S. = Unruhe bewahren, 16. Kart. EUR 19,00. ISBN 97833701734467.

Rezensent:

Dorothee Schlenke

Nach der apokalytisch eingefärbten Krisendiagnostik seines »Be­schleunigung«sbuches (2005) und der umfangreichen Abhandlung zu »Resonanz« (2016) als (er)lösendem Gegenbegriff gelingender Weltbeziehung im Horizont einer »Soziologie des guten Lebens« hätte man von Hartmut Rosa die vielfach angemahnte Ausarbeitung der politischen Implikationen seiner Resonanztheorie erwarten können. Die vorliegende, Ende 2018 erstmals, inzwischen in vielfacher Auflage erschienene Folgeveröffentlichung jedoch trägt den schlichten Titel »Unverfügbarkeit«. R. bringt mit der hier vorgenommenen Ausarbeitung dieses Konstitutionsmomentes sei-nes Resonanzkonzeptes dessen theologisch affine Dimension auf den begrifflichen Punkt, denn der Begriff existenzieller Unverfüg-barkeit wurde 1930 von Rudolf Bultmann in Auseinandersetzung mit S. Kierkegaard zur Abgrenzung gegen Vorstellungen einer technischen Verfügbarmachung von Welt, Mensch und Leben ge­prägt (67).
Hervorgegangen ist dieser Essay aus mehreren in Kooperation mit der Akademie Graz ermöglichten Vorlesungen im Literaturhaus Graz. In lockerer Folge von neun Kapiteln (I–IX) rekapituliert R. zu­nächst (I–III) die konflikthafte Struktur des (spät)modernen Weltverhältnisses und seiner westlich-kapitalistischen, gesellschaftlichen Formation als bestimmt durch Steigerungsimperative im Sinne »dynamischer Stabilisierung« (14) und ausgreifender technischer, ökonomischer und politischer »Weltreichweitenvergrößerung« (16). Als »Verheißung und Versprechung« (25) eines besseren Lebens fungierend, führe diese programmatische Verfügbarmachung von Welt im Sinne ihres »Sichtbar-, Erreichbar-, Beherrschbar- und Nutzbarmachens« (23) zu einem aggressiv-distanzierten Weltverhältnis wie zu gravierenden Entfremdungserfahrungen (ökologische Krise, Demokratie- und Psychokrise). Als Gegenbegriff exponiert R. (IV) die Erfahrung von Resonanz als relationalem »Grundmodus lebendigen menschlichen Daseins« (38) mit den bekannten Strukturmomenten (anrufende Berührung, selbstwirksame Antwort, lebendige Anverwandlung, 38–43) unter Betonung ihrer dialogisch »doppelseitige[n] Bewegung zwischen Subjekt und Welt« (39) wie ihrer konstitutiven Unverfügbarkeit (kontingentes Entstehen, Ergebnisoffenheit).
In der Herausarbeitung (V–VII) der damit verbundenen »Spannungslinien zwischen Resonanzbegehren und Verfügbarkeitsverlangen« (46) präzisiert R. (V) die konstitutive Unverfügbarkeit der Resonanzerfahrung als »Halbverfügbarkeit« (52) im Sinne der »Er­reichbarkeit« (64 f.) des jeweiligen Gegenübers, das »zugleich als (unverfügbares) Anderes« mit dynamisch-responsivem »Eigensinn« (58) bewusst bleibe. Erst diese »qualifizierte«, gleichsam »sprechende« Unverfügbarkeit – von R. als »unschärfste und umstrittenste [These]« (56) markiert – ermögliche Resonanzerfahrung im Sinne des beispielhaft herangezogenen, reformatorischen Wortgeschehens als »Widerfahrnis« (67 f.). Den »konstitutiven Grundwiderspruch der Moderne« (110) sieht R. daher in der zwanghaft verdinglichenden Überführung von Erreichbarkeit in resonanzlose Verfügbarkeit und zwar auf allen Ebenen: habitualisiert in der persönlichen Lebensführung (VI: Geburt, Erziehung und Bildung, Beziehung und Beruf, Digitalisierung, Alter, Pflege und Tod), institutionalisiert im gesellschaftlichen Leben (VII: Optimierungszwänge, Bürokratie, Verrechtlichung) und schließlich in einem »identifizierenden«, den lebendigen »Riss« zwischen unverfügbaren Dingen und verfügendem Be­griff verkennenden Denken selbst (112–114).
Für den Weg aus diesem »Labyrinth einer resonanzlosen Steigerungsgesellschaft« (122) ist nach R. (VIII) die Einsicht grundlegend, dass Verfügbarkeitsverlangen wie Resonanzsehnsucht ein identisches, responsives »Beziehungsbegehren« als »Grundstruktur menschlichen Begehrens« (119) zugrunde liege, das spätmodern in ein verfügendes Objektbegehren (z. B. Werbung, Konsumismus) folgenreich fehlgeleitet wurde. Durch ideologiekritische Aufklärung des begehrenden Subjekts sei aber ein resonanzoffenes Weltverhältnis und so »eine andere Welt« (122) möglich. In schroffem Gegensatz dazu prognostiziert R. im letzten Kapitel (IX) angesichts grenzenloser Verfügbarmachung der Welt wie der wachsenden sozialen und politischen Komplexität die Rückkehr einer radikal resonanzlosen, lebenspraktischen Unverfügbarkeit als »Monster« (124), eindrucksvoll am Beispiel atomarer Katastrophen demonstriert.
Auch wenn diese Schlussmischung aus gleichermaßen eindringlichem Appell wie Pessimismus eine gewisse Ratlosigkeit erzeugt, so bietet dieses außerordentlich gut lesbare Buch eine prägnante Einführung in R.s Theorie mit hoher lebensweltlicher Plausibilität, welche die Lektüre gelegentlich selbst zu einem Resonanzerlebnis werden lässt. Gleichwohl verbleiben nicht wenige Ausführungen im Bereich einer eher gefühlten Evidenz, deren Validierung wünschenswert gewesen wäre ebenso wie ihre stär-kere Anwendung auf gegenwärtige politische Entwicklungen. Auch die argumentativ zentrale Inanspruchnahme einer ursprünglich konstitutiven Resonanz zwischen Subjekt und Welt bleibt in ihrer erklärten Beschränkung auf »die phänomenologische Seite« (59) begründungstheoretisch unbefriedigend. Insofern R. wiederholt den Entwurfscharakter seiner Überlegungen betont, darf man auf weitere Ausführungen gespannt sein.