Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1218-1220

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Acta Cusana

Titel/Untertitel:

Quellen zur Lebensgeschichte des Nikolaus von Kues. Hgg. v. J. Helmrath u. Th. Woelki. Bd. II, Lfg. 4–7.

Verlag:

Hamburg: Felix Meiner Verlag 2018–2020. Lfg. 4: 1455 Juni 1 – 1456 Mai 31. Nach Vorarbeiten v. H. Hallauer u. E. Meuthen. 2018. VIII, 316 S. Kart. EUR 268,00. ISBN 9783787333448. Lfg. 5: 1456 Juni 1 – 1457 Mai 31. Nach Vorarbeiten v. H. Hallauer u. E. Meuthen. 2019. VIII, 276 S. Kart. EUR 268,00. ISBN 9783787336821. Lfg. 6: 1457 Juni 1 – 1458 September 30. Nach Vorarbeiten v. H. Hallauer u. E. Meuthen. 2020. X, 380 S. Kart. EUR 286,00. ISBN 9783787338504. Lfg. 7: Nachträge, Einführung, Literatur und Register. 2020. 277 S. Kart. EUR 268,00. ISBN 9783787339334.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Die Heidelberger Akademie der Wissenschaften hatte sich 1964 entschlossen, zusätzlich zu den von 1932 bis 2004 erschienenen »Opera omnia« des Nikolaus von Kues (NvK) »Acta Cusana« erscheinen zu lassen. Jetzt wird eine Einführung zum ganzen Vorhaben gegeben (Band II, Lfg. 7, 1927–1963). Es geht darum, »die gesamte schriftliche Überlieferung« zu erschließen. Seine acta geben über seine Lebensgeschichte detaillierte Auskunft. Mit ihnen soll die gesamte poli-tische und kirchliche Tätigkeit des NvK erschlossen werden.
Hermann Hallauer und Erich Meuthen übernahmen ihre Erarbeitung und brachten in den Jahren 1976–1996 den I. Band heraus. Er umfasste die Jahre 1401–1452. Beide haben über diesen Zeitraum Texte gesammelt, die sie ihren Nachfolgern Johannes Heimrath und Thomas Woelki übergeben haben. Als 2005 die Heidelberger Akademie sich vom Vorhaben zurückzog, übernahm die Berliner Humboldt-Universität die Schirmherrschaft und richtete eine eigene Forschungsstelle ein. Seit 2012 konnten zügig die sieben Lieferungen von Band II erscheinen, so dass dieser Band mit über 3300 Einzelstücken aus über 250 Archiven und Bibliotheken jetzt vollständig vorliegt. Er umfasst die Jahre 1452–1458. Damit sind – zusammen mit den in Band I dokumentierten Texten – über 5800 Belege ediert worden.
Viele Einzelstücke werden in Regestenform abgedruckt. Sie enthalten oft kürzere oder auch längere wörtliche Zitate, die durch einen anderen Schriftgrad erkennbar sind – jeweils unterscheidbar, ob der Text von NvK oder von einem anderen Autor stammt. Es gibt auch vollständig abgedruckte Texte, so z. B. die Statuten, die NvK für die Waldschwestern im Halltal erstellt hat, in denen sehr detailliert Anweisungen für alle Bereiche des klösterlichen Lebens gegeben werden. Oder: das Schreiben an die Äbtissin Verena von Stuben, Dechantin Afra und an den Konvent von Sonnenburg, in dem NvK den Vorschlag ablehnt, einen Schiedsrichter im Streit um zentrale Punkte der Reformcharta anzurufen. Die päpstliche Bulle habe ihm die Durchsetzung der Reform befohlen. In einem Schreiben an Leonhard von Velseck legt NvK seine Verhandlungsposition im Streit mit Herzog Sigismund dar. Auf der Burg Buchenstein be­schreibt NvK in einer rechtshistorischen Abhandlung die Vogteirechte im Bistum Brixen.
Die meisten Quellenstücke stammen aus dem Archiv des Hochstifts Brixen oder aus dem Archiv des Grafen von Tirol (heute Tiroler Landesarchiv). Unter Urkunden werden vorrangig Schriftstücke verstanden, die Rechtsgeschäfte bzw. rechtserhebliche Verfügungen dokumentieren. »Die Bandbreite der in den Acta Cusana präsentierten Urkunden reicht von autoritativen Mandaten, oft als Rundschreiben an den gesamten Klerus versandt, über die seriell ausgefertigten Lehens- und Ablassbriefe bis hin zu Bestallungsurkunden einzelner Hauptleute und Investitionsurkunden für einzelne Pfarrer« (1931).
Zahlreiche Ablassbriefe hat NvK ausgestellt. Das zeigen 667 Einträge in beiden Bänden. Das passt sicher nicht zur Vorstellung von NvK als einem Vorreformator und sie passten schon zu seiner Zeit nicht in den zeitgenössischen Reformdiskurs. Vinzenz von Aggsbach kritisiert NvK, weil er »indulgencia non tamen sine pecunia fuit data« (Nr. 4693).
Aufmerksamkeit verdienen Lehens- und Gerichtsurkunden, wo­bei »die Abgrenzung zwischen geistlicher und weltlicher Gerichtszuständigkeit […] ein Dauerstreitpunkt zwischen Nikolaus von Kues und Hz. Sigismund« war (1938). Der Herzog versuchte immer wieder politischen Einfluss auf laufende Gerichtsverfahren zu nehmen. NvK mischte sich dann ein, wenn er als Vormund Verantwortung für eine der Streitparteien übernommen hatte. Politische Streitigkeiten regelte meist ein Schiedsverfahren, bei der Durchführung von Klosterreformen gab es einen Schlichtungsvertrag. Das Vorgehen der Sonnenburger Benediktinerinnen »entsprach daher der Logik des gewohnheitsrechtlich geformten weltlichen Prozessrechts« (1940).
Zahlreiche Quellen der »Acta Cusana« stammen aus dem päpstlichen Kanzleibetrieb – oft noch bezogen auf seine Legationsreise. NvK bemühte sich, für jede seiner Handlungen und Entscheidungen päpstliche Rückendeckung zu erhalten.
Grundgerüst der Acta bildet Nikolaus’ Briefwechsel. Er führt »in alle Bereiche bischöflichen Handelns«. Die Briefe zeigen den Kardinal »als einen gut vernetzten Akteur der europäischen Geschichte« (1942). Sie befinden sich naturgemäß vor allem in den Archiven der Empfänger und sind somit weit verstreut. Die Briefpartner verbanden stets konkrete Anliegen mit dem Briefwechsel: »Hilfe bei Reform und Visitation, pastoraler Beistand und väterlicher Rat, intellektueller Austausch und Buchtransfer« war gefragt (1945).
Die hierarchische Beziehung zwischen den Briefpartnern wird erkennbar an den Briefunterschriften. Häufig hat NvK die Briefe selbst unterschrieben. An unbequeme oder ihm feindlich gesonnene Briefpartner (Herzog Sigismund, Verena von Stuben) hat er sie nicht selbst geschrieben. Viele Akten, die im Tiroler Landesarchiv oder im Diözesanarchiv Trient heute lagern, betreffen den Streit um das Kloster Sonnenburg, das sich sowohl der Visitation als auch der Reform widersetzte.
Vier Synoden hielt NvK in seiner Amtszeit als Bischof von Brixen ab. Drei von ihnen sind gut dokumentiert und erlauben einen Einblick in deren Verlauf. Man erkennt einen kollektiven Entscheidungsprozess, der aber nicht immer zum Erfolg führte. Oft entschied NvK kraft seiner Autorität als Bischof. Es kam vor, dass er durch den Druck der öffentlichen Meinung seine Entscheidungen revidieren musste.
Wichtig sind weiter die Visitationsakten. Man versuchte jeweils einen Konsens zu finden, der Schritt für Schritt bis zu seinem Zustandekommen schriftlich dokumentiert und z. T. notariell beglaubigt wurde. Die beabsichtigte Reform des Klosters Sonnenburg ist das »wohl am besten dokumentierte(n) Einzelbeispiel für eine spätmittelalterliche Nonnenreform überhaupt« (1949–1951). Durch den hartnäckigen Widerstand der Nonnen und vor allem ihrer Äbtissin Verena waren drei Reformversuche gescheitert. Erst durch Einverständniserklärungen des Stiftsvogts und der Nonnen kam die Reform zustande. Ebenso liegen Protokolle über politische Verhandlungen vor. Sie gehen oft über die letztlich geschlossenen Verträge hinaus. Weniger Bedeutung haben chronikalische Quellen für die in den Acta dokumentierten Zusammenhänge. Doch interessant sind die Raitbücher (Abrechnungsverzeichnisse). Eigenhändige Vermerke zeigen, dass der Kaufmannssohn NvK diese häufig selbst prüfte.
Schließlich ist auf Gutachten und Denkschriften hinzuweisen. So ging es z. B. um die Auslegung eines kaiserlichen Privilegs Friedrichs I. von 1177 oder um die passenden Kopfbedeckungen der Brixener Domkapläne (!). Die Autorität juristischer Gutachten zur Rechtfertigung ihres Handelns nutzten sowohl Verena als auch NvK, wie es zu dieser Zeit üblich war. Sie spiegeln sich häufig in der alltäglichen Regierungspraxis wider.
So wie in Band I, Lfg. 4, so enthält Band II in Lfg. 7 Nachträge, ein Quellen- und Literaturverzeichnis und ausführliche Register, ein Allgemeines Namen-, Orts- und Sachregister, ein Auswahlregister zur Person des NvK (dabei kommt es zu Doppelnennungen), Verzeichnisse der Bibelzitate, der Zitate aus dem »Corpus Iuris Civilis« und dem »Corpus Iuris Canonici«.
Nun zu einigen Themen, die in den Acta eine Rolle spielen, so zum Pfründenwesen: NvK verschaffte für sich selbst sechs Pfründen. Auch seinen Familienangehörigen besorgte er Pfründen, z. B. seinem Neffen Simon von Wehlen (Nr. 5043, vgl. Nr. 4816, 5115). Dabei ist zu beachten, dass die Kleriker mit den Pfründen ihr Leben unterhalten mussten.
Seine Pflicht, Visitationen abzuhalten, nahm NvK ernst. 1455 erließ er eine Visitationsordnung für sein Bistum (Nr. 4416) und bestimmte darin ihren Verlauf und welche Fragen den Klerikern zu stellen sind, so nach deren Kleidung, ob sie im Konkubinat leben, sich gegenseitig die Beichte abnehmen und ob sie predigen. Zu erfragen seien die Einkünfte der Pfarrer und ihre Kenntnisse, die Ausstattung der Kirchen und deren Filialen, und ob in ihnen Messen gehalten werden, wie die reliqua aufbewahrt und ob Gebühren für die Beichtabnahme bezahlt werden, wie hoch die Priestergehälter sind. Auch Fragen an die Gemeindeglieder wurden formuliert. Dabei ging es um Häresie und Hexerei, um ihr Verhalten während der Messen, um die Erziehung der Kinder. Insgesamt sind es 97 Fragen. Ebenso lagen ihm die Synoden am Herzen. Über die Synode vom 2. bis 4. Mai 1457 liegt ein Protokoll vor (Nr. 5217–5222).
Interessant sind Einblicke in sein persönliches Leben. Aus Abrechnungen ist zu erfahren, was er gegessen, welche Weine er getrunken hat, aber auch, dass er – im Zusammenhang mit dem Streit um Sonnenburg – Angst vor Mordanschlägen hatte.
In seinen Schriften gibt es zu den Sakramenten wenige Auskünfte. Aus den Acta erfahren wir einiges zu praktischen Fragen (Häufigkeit des Empfangs, Verhängen eines Interdikts usw.) Während ihn auf seiner Legationsreise 1451/52 die Wallfahrten zum »heiligen Blut« in Wilsnack aufgeregt haben und er eine Untersuchung des Hostienkultes veranlasste, stand er den Wunderhostien in Andechs positiv gegenüber (Nr. 4103).
Die »Acta Cusana« geben ein umfassendes Bild vom Leben und Wirken von NvK. Darüber hinaus sind sie ein wichtiges Quellenwerk zum 15. Jh., sowohl für die Kirchen-, als auch für die Profangeschichte. Gerade die Details sind interessant. Die Lebensereignisse des NvK und die weitgespannten Einflüsse seines Wirkens werden lebendig. Sie zeigen aber auch, dass NvK sicher nicht als Vorreformator bezeichnet werden kann, doch war er ein wichtiger Reformer.