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Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1201-1203

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Haase, Daniel

Titel/Untertitel:

Jesu Weg zu den Heiden. Das geographische Konzept des Markusevangeliums.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 216 S. m. Abb. = Arbeiten zur Bibel und ihrer Ge­schichte, 63. Geb. EUR 44,00. ISBN 9783374058327.

Rezensent:

Gabriella Gelardini

Mit diesem Buch legt Daniel Haase seine leicht überarbeitete und um nachfolgende Literatur erweiterte Dissertation vor, die 2017 vom Fachbereich Geistes- und Kulturwissenschaften der Universität Kassel angenommen und von Paul-Gerhard Klumbies begleitet worden war.
Inspiriert wurde die Arbeit von H.s persönlichem Interesse an der Geographie des Markusevangeliums, deren ungelöste Fragen er ein für alle Mal klären wollte. Das Ansinnen war, wie er unumwunden zugibt, »zum Scheitern verurteilt« (29). Doch damit war das Projekt nicht am Ende, denn H. entdeckte für sich nicht nur die (fiktionale) Narrativität des Textes sowie den impliziten Leser, sondern auch die Literaturgeographie als alternative methodische Zugehensweise. Seine modifizierte Fragestellung sollte, so formuliert er es, »ein[en] qualifizierte[n] Beitrag zu einer möglichen Aussageintention des Autors hinsichtlich der Bewegungen Jesu im erzählten Raum und im Arrangement der geographischen Angaben erkennbar [machen], unabhängig von den Kenntnissen des Autors« (185).
Nach einer Einleitung (Kapitel 1) sowie der Darlegung des Problems (Kapitel 2) – dass dem Autor des Markusevangeliums geographische Kenntnisse um den See Genezareth fehlten – macht sich H. an eine Vorabklärung des Gegenstandes (Kapitel 3) und beobachtet dabei nicht nur die Wichtigkeit Kapernaums und die herausragende Stellung Jerusalems, sondern auch, dass Jesus mit Galiläa als Ausgangspunkt fünf Gebiete aufsucht und mit zwei Ausnahmen stets wieder dahin zurückkehrt. Seine Verbundenheit zu Kapernaum drücke Jesu Verwurzelung im Judentum aus, welche sich aber inhaltlich wegen der erwähnten zwei Ausnahmen nicht zeige. Daher ist H. an einer vertieften Untersuchung dieser Verwurzelung Jesu im Abschnitt Mk 7,1–8,13 interessiert. In Anlehnung an Vorarbeiten Rupert Fenebergs sieht H. dabei den Autor seine Welt in zwei religiöse Lager einteilen: Galiläa, Peräa und Judäa betrachtet er als rein jüdische Gebiete, die römische Provinz Syrien, die Tetrarchie des Philippus sowie die Dekapolis demgegenüber als rein heidnische. H. folgert: »Somit sind alle auftretenden Figuren an Orten oder in Siedlungen stets Angehörige der für dieses Gebiet vorgesehenen religiösen Ausprägung.« (52–53)
Nach Bündelung seiner theoretischen Grundlage (Kapitel 4) wendet H. sein Modell auf Mk 7,1–8,13 an (Kapitel 5) und ortet in Jesu Wegen einen »Zyklus […], innerhalb dessen der Autor Jesus einen Wechsel von jüdischem zu heidnischem Gebiet und wieder zurück auf jüdisches Gebiet vollziehen lässt« (84) – d. h. zunächst Gennesaret (jüdisch), dann das Gebiet von Tyrus und Sidon, die Dekapolis sowie der Ort der Speisung der 4000 (jeweils heidnisch) und schließlich Dalmanutha (jüdisch). Im Streitgespräch zu Gennesaret zeigt sich für H., dass Jesus die Integration der Nichtjuden in die Ekklesia wolle, was er als theologische Nähe des Evangelisten zu Paulus deutet. Die Begegnung mit der Syrophönizierin zu Tyrus wiederum stellt für H. einen Wendepunkt, einen Durchbruch zur Heidenmission dar; die Heilung des Taubstummen in der Dekapolis deutet er ferner als Jesu Öffnung zu den Heiden hin; sieht ihn darüber hinaus mit diesen Tischgemeinschaft pflegen und in Dalmanutha schließlich den Bruch mit den Pharisäern endgültig vollziehen. Oder mit H.s Worten: »Markus erzählt die Entstehungsgeschichte der heidenchristlichen Gemeinden und legitimiert sie durch das Handeln Jesu.« (112)
Als Nächstes weitet H. sein Modell auf Mk 1,1–10,17 aus (Kapitel 6), findet es bestätigt und folgert: »Ein Aspekt des Markusevangeliums ist damit unter anderem die Hinwendung zu den Heiden« (138), worauf er sich anschließend einigen Geschwistergeschichten zuwendet (Kapitel 7), um vor seinem Schluss (Kapitel 9) noch zu gesamtkompositorischen Aussagen im Blick auf Jesu Person und sein Handeln zu kommen (Kapitel 8). Demnach würde Jesus sich von seinen Landsleuten – insbesondere den Pharisäern und Schriftgelehrten – unterscheiden. Obschon Jude, hätte sich Jesus durch seine Reisen in heidnische Gebiete von seinen Landsleuten gelöst und sich selbst außerhalb seiner Religion gestellt. Markus möchte Jesus als Teil einer neuen Gruppe erzählen, einer, deren erster Vertreter Jesus selbst war: die Christen. Daraus ließe sich ein Bild der markinischen Gemeinde ableiten, folgert H. zum Schluss: »Den Judenchristen führt Markus demnach die Befreiung aus der Unterdrückung [nicht etwa durch die Römer, sondern] durch die Pharisäer und Schriftgelehrten durch Jesus vor Augen, den Heidenchris-ten offenbart er die Aufnahme in das Gottesreich.« (183)
Zu würdigen ist neben der guten Lesbarkeit und transparenten Gliederung insbesondere H.s Einführung der Literaturgeographie. Zu fragen allerdings bleibt, ob er es sich mit der Übernahme der Zweiteilung in jüdische und heidnische Gebiete nicht zu einfach gemacht hat und dadurch die selbst beobachtete Komplexität (47), nämlich dass in »jüdischen« Gebieten ebenso Nichtjuden lebten wie in »nichtjüdischen« Juden, ausblendet. Zu fragen ist ferner, wie aus einem »Aspekt« unter Ausschluss von Mk 10,18–16,8(20) ein Hauptargument werden konnte. Wie verträgt sich die These, dass das Markusevangelium die Heidenmission begründe, beispielsweise mit Mk 15,2, wo Jesus sich als König der Juden versteht? Darüber hinaus ist festzustellen, dass eine Plausibilitätsprüfung der in der Narratologie gründenden Thesen mit historisch-komparativen Fakten H. gut angestanden hätte. Er erwähnt zwar, dass eine solche nicht im Vordergrund steht (68), sie aber ganz zu übergehen, untergräbt sein Argument. Eine genauere Prüfung der wichtigsten außerbiblischen Quelle in diesem Zusammenhang, nämlich Josephus, hätte ihm nützliche Dienste leisten können. H. hätte bei ihm hilfreiche Informationen über die wechselhaften Besitzverhältnisse des Landes im Laufe der Zeit gefunden (z. B. Bell. 1–2). Josephus wäre es nie in den Sinn gekommen, das Gebiet des Philippus als »heidnisch« zu bezeichnen, obschon es zusammen mit ganz Judäa – besieht man es genau – bereits seit 63 v. Chr. sich in römischem bzw. kaiserlichem Besitz befand (Cassius Dio, Gesch. 53.12.7; vgl. z. B. die Steuerfrage Mk 12,13–17). Bei Josephus hätte H. außerdem wichtige Informationen über die demographischen Aspekte erfahren – so z. B., dass in Gerasa eine beachtliche Anzahl von Juden lebte. Indirekt sagt Josephus sogar, dass in jeder syrischen Stadt Juden gelebt hätten (Bell. 2,478.480). Die Behauptung, Markus zeichne Jesus als den Begründer der Heidenmission, hätte zudem einer Beachtung der Diskussion zum Themenkomplex Parting of the Ways bedurft. Und die Ansicht schließlich, dass Jesus sich »außerhalb seiner Religion gestellt hätte«, zeugt von einer Hermeneutik, die sich zentraler und relevanter Diskurse – wie etwa zu Ethnizität in der Antike, zu der Einbettung von Religion in Kultur oder ideologiekritische Ansätze – nicht bewusst ist.