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Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1180-1182

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Mackie, Timothy P.

Titel/Untertitel:

Expanding Ezekiel. The Hermeneutics of Scribal Addition in the Ancient Text Witnesses of the Book of Ezekiel.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 339 S. = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 257. Geb. EUR 99,99. ISBN 9783525540336.

Rezensent:

Thilo Alexander Rudnig

In diesem Werk legt Mackie, adjunct professor für Altes Testament und Hebräische Sprache am Western Seminary in Portland/Oregon, die überarbeitete Fassung seiner Dissertation vor, die von Michael V. Fox (University of Wisconsin) betreut wurde. Durch den Vergleich der hebräischen mit der griechischen Textüberlieferung veranschlagt der Vf. eine große Zahl von Zusätzen bzw. quantita-tiven Unterschieden (scribal expansions) in Ez. Ziel der Untersuchung ist, diese Zusätze zu analysieren, um deren textliche Entstehungs- und Überlieferungsbedingungen in der späten Zeit des Zweiten Tempels (3. Jh. v. Chr. bis 1. Jh. n. Chr.) ergründen zu können. Mithin sollen sich Rückschlüsse auf die Deutung der Texte sowie frühe Formen jüdischer Schriftexegese ergeben. Nach eigener Angabe vertritt der Vf. einen »›modified Urtext‹ approach« (49): Sowohl MT als auch OG (rekonstruiert aus dem B-Text der LXX) stammen von einer gemeinsamen Vorlage, unterlagen aber ihrerseits vielfältigen produktiven Revisionen, wie sie ähnlich die biblischen Qumrantexte zeigen.
Nach einer kurzen Einleitung (I, 13–15) führt der Vf. in einem ersten Kapitel (II, 16–49) in den aktuellen Diskussionsstand ein und erläutert seine Kriterien, um ein Plus in MT oder LXX als scribal expansion zu identifizieren. Dies sind der Überschuss oder das Fehlen von Substantiven, Adjektiven, Nominalphrasen, Verben oder (kurzen) Verbalsätzen (44). Es geht um diese Wortarten und Phrasen, aber z. B. nicht um Konjunktionen, Pronomina und Pronominalsuffixe, Präpositionen, Artikel etc. Um dabei unbeabsichtigte Fehler auszuschließen, müssten die Stemmata der Zeugen und Kriterien der Übersetzungstechnik sowie der Literar- und Redaktionskritik in Betracht gezogen werden. Gemäß dem zweiten Kapitel (III, 50–70) dienen die Kategorien »Zweck/Funktion« (purpose) und »Herkunft« (source) dazu, die Zusätze (expansions) einzuteilen und zu analysieren. Als Zwecke werden »Verdeutlichung« (explicitation, vor allem von Doppeldeutigkeiten in semantischer, morphologischer, syntaktischer und konzeptioneller Hinsicht), »Ausarbeitung« (elaboration) und »Zusammenordnung« (coordination), d. h. »Harmonisierung« (harmonization) oder »Angleichung« (assimilation) erhoben. Die Zusätze stammen 1. aus dem unmittelbaren Kontext desselben Verses oder dem Kontext eines vorangehenden oder folgenden Verses (in-text), 2. aus einem weiteren Kontext in Ez (inner-text), 3. aus einem anderen biblischen Buch (inter-text) oder 4. vom Schreiber selbst (new). Alle potentiellen Zusätze werden in einer umfangreichen Liste (219–313) aufgeführt. In den großen Analyseteilen wird eine repräsentative Auswahl dieser Zusätze untersucht. Zunächst geht es um die Zusätze mit den Zwecken »Verdeutlichung« und »Ausarbeitung«. Sie betreffen die Kategorien in-text und new, und in ihnen sind klare Unterschiede in der sprachlichen Ausführung festzustellen (drittes Kapitel, IV, 71–120). Dann werden Zusätze untersucht, die der Harmonisierung und Angleichung (»Zusammenordnung«) zweier oder mehrerer Kontexte dienen. Sie gehören den Kategorien in-text, inner-text und inter-text an, wobei die inter-text-Zusätze vor allem den Ausgleich von Ez-Stellen mit Belegen aus Lev und Jer anstreben (viertes Kapitel, V, 121–205). Die Analysekapitel ergeben, dass in den Zusätzen die Doppeldeutigkeiten, Unklarheiten oder Unausgeglichenheiten der Texte nicht durch Neuformulierung (etwa im Sinne eines rewritten-bible-Konzepts) geklärt werden, sondern lediglich durch kurze Erweiterungen, die sprachlich eng auf den Kontext bezogen sind. Darin zeige sich ihr bewahrender Charakter. Sie entstammten keiner systematischen Bemühung, seien gegen Emanuel Tov keinem bestimmten literarischen Stratum zuzuordnen, sondern entsprächen eher einer Art occasional scribal reflexes (Michael Fish-bane). Der Vf. sieht schließlich deutliche Parallelen zum Textwachstum der synoptischen Evangelien: Wie dort zeige sich in den Ergänzungen zu Ez das Bewusstsein von einem wachsenden Corpus heiliger Texte. Er schließt daraus: »As such collections begin to exert an internal force upon themselves, scribes immersed in the tradition demonstrate their assumption of its unity conciously or unconsciously by coordinating modifications.« (217) Das Schlusskapitel (VI, 206–218) sichert die Ergebnisse. Es folgt ein umfangreicher Anhang (219–313), der ca. 340 Zusätze zunächst nach Stellenangabe dokumentiert (appendix I) und anschließend nach differenzierter Typologie (appendix II, vgl. die Tabelle 69) kategorisiert. Bibliographie (314–330) sowie ein jeweils kurzes Autoren-, Sach- und Stellenregister (331–339) schließen die Untersuchung ab. Das Buch ist in sehr gut lesbarem und präzisem Stil geschrieben. Sein klarer Aufbau und regelmäßige Fazits tragen zu seiner Benutzbarkeit bei. Die Leser sollten allerdings über adäquate Hebräisch- und Griechischkenntnisse verfügen.
Das Werk zeichnet sich durch große Klarheit und methodische Nachvollziehbarkeit aus. Der Vf. erläutert prägnant die angewandte Methodologie und entwickelt eine präzise Typologie für die Ergänzungen, die sich in seinen terminologischen Zuweisungen niederschlägt. Auf diese Weise werden die Prozesse der Textüberlieferung greifbar und verständlich. Der Vf. geht dabei von der mittlerweile breit akzeptierten Einsicht aus, dass nicht die Suche nach einem zu postulierenden Urtext im Zentrum textkritischer Arbeit stehen sollte, sondern dass die Entstehung der unterschiedlichen Textüberlieferungen und ihrer internen Entwicklungen als eigenständige Zeugen der Tradition sowie der frühen jüdischen Auslegung ernst zu nehmen sind. Schwierig scheint allerdings, dass, von Ausnahmen abgesehen, die hebräischen und griechischen Textfamilien unter den Sigla MT und OG nahezu flächenhaft betrachtet werden. Wie steht es mit unterschiedlichen Lesarten innerhalb der LXX- und MT-Überlieferung, wie steht es im Einzelnen mit den Befunden der Qumrantexte? Wer zur Textgeschichte von Ez forscht, wird die Arbeit deswegen als sinnvollen Ausgangspunkt benutzen können, aber selber noch weitergehen müssen, wie es etwa Ashley S. Crane zu Ez 36–39 getan hat (Ashley S. Crane, Israel’s Restoration. A Textual-Comparative Exploration of Ezekiel 36–39, VT.S 122, Leiden/Boston 2008). Wer jedoch in anderweitiger exegetischer, speziell literargeschichtlicher Hinsicht arbeitet, kann die Ergebnisse des Vf.s gut für die Entwicklung von Thesen zu Ez auswerten, denn gerade die Appendizes machen die Untersuchung auch zu einem sehr brauchbaren und schnell zugänglichen Nachschlagewerk. Das lesenswerte Buch sei nicht nur Textspezialisten, sondern allen Exegeten und Exegetinnen des Ezechielbuches empfohlen.