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Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1162-1165

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Wrogemann, Henning

Titel/Untertitel:

Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020. 728 S. = Lehrwerk Evangelische Theologie, 10. Geb. EUR 58,00. ISBN 978337454923.

Rezensent:

Daniel Cyranka

Im Jahr 2005 erschien ein programmatisches und folgenreiches Positionspapier, das grundlegend für heutige Verständigungen über die Interkulturelle Theologie im evangelischen Kontext ist. Es trägt den etwas umständlichen Titel: »Missionswissenschaft als Interkulturelle Theologie und ihr Verhältnis zur Religionswissenschaft« (vgl. Zeitschrift für Mission 31 [2005], 97–113). Vorgelegt wurde es von der Fachgruppe »Religionswissenschaft und Missionswissenschaft« (seit 2011 »Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie«) der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (WGTh) sowie vom Verwaltungsrat der Deutschen Gesellschaft für Missionswissenschaft (DGMW), den maßgebenden deutschsprachigen akademischen Fachvereinigungen. In den letzten 16 Jahren ist das Fach deutlicher erkennbar geworden. Seine inhaltlichen und programmatischen Facetten, seine Stellung in den diversen Studien- und Prüfungsordnungen sowie die Position als selbstverständlicher Teil evangelischer Theologie wie auch als Teil und Impulsgeber für nicht-theologisch positionierte Religionswissenschaft im deutschsprachigen Raum (und darüber hinaus) sind gut erkennbar. In diesem Fach kann studiert und gearbeitet werden. Wofür steht aber dieses Fach? Dieser Frage gehen nicht zuletzt Lehrbücher nach, anhand von Fachkonzeptionen, Themenbereichen, Theorien und Methoden. Im Gefolge des genannten Positionspapiers sind seit 2011 mehrere solche Einführungen bzw. Lehrbücher erschienen, von denen eines hier zu rezensieren ist. Nach dem Klaus Hock und Volker Küster im Jahre 2011 jeweils eine Einführung in die Interkulturelle Theologie vorgelegt haben (Klaus Hock, Einführung in die Interkulturelle Theologie, Darmstadt 2011; Volker Küster, Einführung in die Interkulturelle Theologie, Göttingen 2011) erschien von 2012 bis 2015 Henning Wrogemanns dreibändiges Lehrbuch (Henning Wrogemann, Lehrbuch Interkulturelle Theologie/Missionswissenschaft, 3 Bände, Gütersloh 2012–2015), das inzwischen auch in einer englischsprachigen Fassung zugänglich ist (Intercultural Theology, Vol. 1–3, Downers Grove 2016–2019).
Das hier zu besprechende Lehrbuch baut auf dieser Publikation auf und geht gleichzeitig über sie hinaus, indem W. eine Einführung in das »Doppelfach« Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie vorlegt, also einen ersten Teil zum Thema »Religionswissenschaft« voranstellt und damit notwendigerweise auch auf Werke wie Klaus Hocks Einführung in die Religionswissenschaft (5. Aufl., Darmstadt 2014) verweist. Allerdings sind die Bezugnahmen auf die genannten neueren Werke von Hock und Küster äußerst spärlich bzw. im Falle der eben genannten Einführung in die Religionswissenschaft gar nicht vorhanden. Das löst beim Re­zensenten etwas Verwunderung aus. (Leider ist das Register bei diesen Einträgen nicht ganz zuverlässig.)
Die Darstellung des Doppelfaches ist eine Vorentscheidung, die eine klare Trennung der Perspektiven und Themenbereiche an­strebt, ohne jedoch die ständige konzeptionelle und inhaltliche Bezogenheit beider Bereiche aufeinander außer Acht zu lassen. (Denkbar wäre es auch, von den Themenfeldern her die religionswissenschaftlichen und die interkulturell-theologischen Aspekte zu entwickeln und zu erläutern. Doch ein solcher Ansatz würde – zumal in einem Lehrbuch – die ohnehin komplexe Materie wohl historisch und systematisch überfrachten.)
Ob man das Lehrwerk Evangelische Theologie, von dem seit 2018 bisher sieben Bände erschienen sind und dessen letzter 2026 in der Evangelischen Verlagsanstalt erscheinen soll, auch anders hätten konzipieren können, kann gefragt werden. Die exegetischen Fächer und das Fach Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie werden jeweils in einbändigen Darstellungen repräsentiert. Die Systematische Theologie wird in zwei bzw. drei Bänden (Dogmatik, Ethik und Ökumenische Kirchenkunde) aufbereitet, wobei die inhaltlichen Bezüge zwischen Ökumenischer Kirchenkunde und Interkultureller Theologie meiner Lektüre nach nicht konzeptionell abgebildet werden. Religionspädagogik und Praktische Theologie werden in je eigenen Bänden dargestellt, die Kirchengeschichte in zwei epochenmäßig getrennten Bänden. Auch hier könnte nach Querverbindungen im Gegenstandsbereich gefragt werden, wenn man die Kirchengeschichte als Verflechtungsgeschichte begreift, wie es im Rahmen religionswissenschaftlicher wie auch interkulturell-theologischer Perspektiven üblich ist. Dieser kurze Blick auf die Reihe macht die Situierung des Werkes klar und zeigt bestimmte Vorentscheidungen auf, die in der Struktur der Reihe begründet sind. Hier soll kein Inhaltsverzeichnis des Werkes geboten werden. Es werden vielmehr ein paar Schlaglichter geworfen, um das Werk ein wenig beschreibend einzuordnen.
Im materialen Bereich der Religionswissenschaft (Teil A des Buches) löst W. die (durch die Systematik der Reihe konzeptionell ja weitgehend vorstrukturierte) Aufgabe dergestalt, dass er nach einem sehr lesenswerten Teil über religionswissenschaftliche Theorie, der strenggenommen auch Methodenkapitel enthält, vier exemplarische »Religionsformationen« thematisiert, denen im deutschsprachigen Raum eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Er beschreibt in klaren Übersichten die Themen Judentum, Hindu-Traditionen, buddhistische Traditionen sowie – umfangreicher – islamische Traditionen. Die Auswahl kommentiert er selbst durchaus kritisch und nimmt dabei Bezug auf den Teil B des Buches, der Interkultureller Theologie gewidmet ist:
»Die kurzen Bemerkungen zur Einführung sind dazu gedacht, eine um-fassendere Perspektive anzumahnen, als sie im Rahmen eines begrenzten Lehrbuches geboten werden kann. Die Fokussierung auf lediglich vier Re­ligionsformationen bringt unweigerlich eine Horizontverengung mit sich, der durch die Hinweise in diesem Abschnitt zumindest ein wenig entgegengewirkt werden soll. Wenigstens im Hinblick auf die pfingstlich-charismatische Bewegung werden im zweiten Teil dieses Buches weiterführende Hinweise gegeben werden können. Die übrigen Thematiken seien zum weiteren Studium empfohlen.« (251 f.)
Das Christentum bekommt also im Rahmen des Lehrwerkes Evangelische Theologie eine Sonderstellung, die fachgeschichtlich und fachsystematisch plausibel, aus religionswissenschaftlicher Perspektive aber spätestens mit den 1879–1910 in 50 Bänden erschienenen Sacred Books oft the East kritisch zu kommentieren ist. Gleiches gilt für Globale Christentumsgeschichte, ein Konzept, an das Interkulturelle Theologie ebenso anknüpft wie an Debatten zum Thema World Christianity. In diese aus Fachperspektive etwas sperrige Situation passt W. sein klar strukturiertes und umfangreiches Lehrbuch ein.
In der Zusammenstellung der Teildisziplinen in dem genannten Rahmen liegt eine der grundsätzlichen Stärken des Lehrbuches. Denn durch diese, eher kritisch zu sehenden Bruchstellen im Rahmen der Gesamtkonzeption des Lehrwerks Evangelische Theologie gelingt es W. mit seinem Wurf, den konzeptionellen Gesamtbedarf sichtbar zu machen, der sowohl die religionswissenschaftlichen wie auch die interkulturell-theologischen Themen auf Kirchengeschichte, Ökumenische Theologie und weitere Dimensionen evangelischer Theologie lenkt. Ganz grundsätzlich zu fragen ist, wie es sich vice versa verhält, wie andere theologische Disziplinen sich zu dem hier vorgestellten Fach verhalten. Die solide religionswissenschaftliche Übersicht, vor allem aber die missionshistorische Darstellung, auf der W. seine missionstheologischen Themen aufbaut, und schließlich die beispielhaft vorgeführten Theologien im Kontext, sind pointiert inszeniert und diskutabel und sollten im Rahmen der Theologie aufmerksam wahrgenommen werden. Positiv zu vermerken ist außerdem der Umstand, dass von W. orthodoxe K irchen (und damit die früher so genannte »Zweite Welt«) zum Stichwort Missionstheologie wenigstens kurz behandelt werden (vgl. zu diesem Thema Daniel Cyranka, Epistemische Grenzverschiebungen in Religionswissenschaft und Interkultureller Theologie. Ein Ausblick, in: Klaus Hock [Hg.], Wissen um Religion: Erkenntnis – Interesse. Epistemologie und Episteme in Religionswissenschaft und Interkultureller Theologie [VWGTh 64], Leipzig 2020, 381–398).
W.s Verhältnisbestimmung zu aktuellen Entwürfen und Ansätzen in der Religionswissenschaft ist als eher zurückhaltend zu charakterisieren. Das ist unter anderem daran abzulesen, dass jüngere bzw. gängige Entwürfe von Fritz Stolz bis zu Hans-Georg Kippenberg/Kocku von Stuckrad oder auch die genannten Einführungen von Hock und Küster keine Rolle spielen. In Bezug auf Interkulturelle Theologie zeigt sich eine etwas andere Debattenlage, hier spielen Entwürfe eine Rolle, die im weitesten Sinne der Religionstheologie gelten, von der W. sich grundsätzlich abgrenzt, um einen eigenen Ansatz zu entfalten, der auf der Unterscheidung einer Theorie interreligiöser Beziehungen und einer Theologie interre-ligiöser Beziehungen basiert. Dies zu diskutieren ist hier nicht der Ort, doch auf das explizit missionstheologische Anliegen des Werkes ist hinzuweisen: »Nicht religionstheologische Selbstrelativierung ist der Weg, sondern das Selbst-Enthoben-Sein im performativen Geschehen der Verherrlichung des dreieinigen Gottes, der sich in Leben, Sterben und Auferweckung von Jesus von Nazareth, dem Sohn Gottes, in der Kraft des Heiligen Geistes als Gott der Liebe offenbart hat. Aus dem Erfahrungsraum dieses Gottesverständnisses ergibt sich ein spezifisch christlicher Erwartungshorizont im Blick auf die Welt.« (543)
Hier, beim Thema einer Theologie interreligiöser Beziehungen, ist der Ausgangs- und Zielpunkt des Lehrbuches zu finden. Nicht Wahrnehmung, Analyse und Deskription stehen im Zentrum von W.s Interesse, sondern »Wertschätzung und Zeugnis« (545) in der Spannung von religiöser Pluralität und Wahrheitsfrage, die mit den variantenreichen Perspektiven, Mitteln und Methoden des Faches Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie konfrontiert und erarbeitet werden. Von der solchermaßen erhobenen Zielbestimmung her kann darüber diskutiert werden, ob der das Werk abschließende Teil über Begriffe und Theorien Interkultureller Theologie nicht eigentlich einen anderen systematischen Ort hat, auch wenn er als Schlusswort noch einmal W.s Position enthält. Als eine gewichtige Stimme neben anderen ist dieses Lehrbuch als Teil des akademischen Unterrichtsmaterials sehr zu empfehlen.