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Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1091–1093

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Boomgaarden, Jürgen

Titel/Untertitel:

Aus Gottes Hand. Der Status des menschlichen Embryos aus evangelischer Sicht.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019. 235 S. m. 2 Abb. = Religion, Theologie und Naturwissenschaft, 32. Geb. EUR 70,00. ISBN 9783525570722.

Rezensent:

Christina Aus der Au

Zur Frage nach Status und Würde von Embryonen legt wieder einmal ein evangelischer Theologe seine Überlegungen vor. Schon mit dem Titel zeigt er, dass es ihm nicht um die Frage geht, was dem Embryo zu welchem Zeitpunkt und aufgrund welcher Eigenschaften zukommen soll. Er dreht die Blickrichtung um: Nicht, was der Embryo ist und hat, sondern woher er kommt und wohin er geht, verleiht ihm seinen Status. Dafür argumentiert sich der Vf. dif-ferenziert durch die Überlegungen von Biologie, Philosophie und gesellschaftlichem Ethos hindurch, um dann die Frage nach dem Wer und Warum zu verlassen und nach dem Woher und dem Wozu zu fragen. Seine Ausführungen zum ungeborenen Leben sollen deswegen ganz grundsätzlich als eine Einführung in die evangelische Anthropologie gelesen werden können (vgl. 13).
Jürgen Boomgaarden, Systematischer Theologe an der Universität Koblenz-Landau, hat sein theologisches und vor allem auch ethisches Denken an Luther, Kierkegaard, Bonhoeffer und Barth geschult: »Die Theologie ist darin Wissenschaft, dass sie eine Position des Glaubens einbringt, deren Plausibilität und Stringenz sie zugleich zur Disposition stellt« (11). So nimmt er den Menschen vor dem Hintergrund der Beziehung Gottes zum Menschen in Jesus Christus in den Blick, »von dem aus die Erkenntnisse der anderen Disziplinen in das rechte Licht gerückt werden können« (13).
Zentral ist für den Vf. die Rechtfertigung. Was ihn vor das Problem stellt: Fällt damit der Beginn des Menschseins des vor aller Eigenleistung gerechtfertigten und gottgewollten Menschen mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle zusammen? Oder ist es die in der Rechtfertigung grundgelegte Beziehung, die für das Menschsein konstitutiv ist und die sich in der zwischenmenschlichen Anerkennung konkretisiert? Gegen Ersteres spricht die große Zahl der Embryonen, die nach der Verschmelzung nicht zur Rei fung kommen, gegen Letzteres der theologische Einspruch, dass nicht der Mensch den Menschen zum Menschen macht. Und doch haben beide Ansätze für den Vf. ihre Richtigkeit, und so sind seine weiteren Ausführungen der Versuch, beides zusammenzubringen.
Es ist nicht die einzige Gratwanderung, die der Vf. vollzieht. Er verwirft zwar den Versuch, Personalität an biologischen Eigenschaften oder Übergängen festzumachen, aber anerkennt in den SKIP-Argumenten den »Ausdruck unserer ständig notwendigen Selbstvergewisserung« (83) als Wesen, die ihr eigenes Personsein immer schon voraussetzen. Diese Überzeugung ist »Gemeingut zu­mindest westlicher Gesellschaften« (83) und wird in Schule und Familie weitergegeben. Allerdings stehen bürgerliche und familiäre Sicht des Embryos in einer Spannung zueinander. Der Staat achtet in jedem Embryo bedingungslos »die ›Menschheit‹ in ihm« (100), unabhängig von seiner Einbettung. Dies macht jede Abtreibung »zur Ungerechtigkeit, die zu missbilligen ist« (111). Aber erst in der Intimität der Familie wird das werdende Kind als konkretes Individuum wahrgenommen, und erst durch diese Liebe wird es zum Subjekt.
Es ist vor allem die Mutter, deren Anerkennung den Fötus zu ihrem Kind macht. Der Vater ist, auch wenn vom »elterlichen Projekt« die Rede ist, seltsam abwesend und erscheint höchstens im Nebensatz oder gar als »Spur eines Anderen im Leib der Frau« (113). Der Vf. ist dabei weit davon entfernt, das »Projekt der Liebe« (111) zu romantisieren, das Kind entsteht »im Konflikt der Gefühle und Vorstellungen«, (115), und so ist es auch immer eine prekäre Liebe, in die biologische und gesellschaftliche Denkmuster miteinfließen.
Eine evangelische Ethik soll sich nun kritisch mit dem kulturellen Selbstverständnis auseinandersetzen, an dem sie ja auch teilhat. Mit Luthers Disputation über den Menschen und dem aristotelischen Schema der vier Ursachen argumentiert der Vf., dass die philosophische Betrachtungsweise des Menschen an ihre Grenzen kommt. Der Philosophie bleibt das Ganze des Menschen verborgen. Die Theologie teilt deren Fragen, aber aus der Position des Glaubens an Gottes Schöpfermacht (vgl. 11) eröffnet sich ihr eine Perspektive, in der die Spannung in den Entstehungsbedingungen aufgelöst ist. Dabei hat auch sie teil an der geschichtlichen und gebrochenen Vernunft, auch sie sieht den Menschen nur in seiner Unvollkommenheit, aber doch »im Horizont seiner über den Tod hinausgehenden Zukunft« (130). Dem Menschen kommt die Würde nicht aufgrund einer natürlichen Gottesebenbildlichkeit zu, sondern vom gerechtfertigten, neuen Menschen her fällt orientierendes Licht auf seinen natürlichen Anfang.
Dies wird die Theologie der Philosophie nicht einsichtig ma­chen können. Ihre Argumente leuchten nur dem ein, der ihre Grundlage des Glaubens teilt. »Diese Beschränkung muss die Theologie im Auge haben, wenn sie ihre Argumente zum Embryonenstatus hervorbringt.« (132) Losgelöst vom Glauben wäre eine christliche Ethik Gesetz, als Zeugnis ist sie Evangelium (vgl. 185).
Der Vf. analysiert drei evangelische Positionen, die vom Zusammenspiel göttlicher und menschlicher Annahme ausgehen. Die Tübinger Thesen von 1971 setzen die in der Rechtfertigung begründete Menschlichkeit des Embryos ins Spannungsverhältnis zur unbedingten Selbstbestimmung des Menschen. Ähnlich setzt Gabriele Kohler-Weiß in ihrem Entwurf das freie Ja Gottes in Beziehung zum freien Ja der Eltern. Am ausführlichsten setzt sich der Vf. mit der Stellungnahme von Johannes Fischer auseinander. Dieser u nterscheidet zwischen menschlichem Leben und personalem Menschsein – eine Differenz, die nicht theoretisch objektiv, sondern praktisch teilnehmend erkannt wird, nämlich in der intuitiven und geistgeleiteten Wahrnehmung der erlebten Situation. Der Vf. hat viel Sympathie für diese Position, aber kritisiert, dass Fischer diese intuitive Wahrnehmung doch an konkrete Voraussetzungen knüpft. Der Vf. sieht hier die Differenz zwischen der biologischen Perspektive und der Perspektive der intuitiven Wahrnehmung einerseits nicht konsequent genug durchgeführt, andererseits zu trennscharf. Er möchte die Achtung des Anderen gerne von der subjektiven Wahrnehmung unabhängig machen und im Wesen des Anderen selbst begründen.
So begrüßt er die relationale Anthropologie dieser drei Ent-würfe, aber bemängelt bei allen, dass die Annahme des Menschen durch Gott in einer Spannung stehe zur Annahme des Menschen durch den Menschen. »Wie sind göttliche und menschliche Annahme miteinander zu vermitteln, ohne dabei die göttliche Annahme weder an eine bestimmte Qualität menschlichen Daseins zu binden noch durch den Ausgriff auf alle menschlichen Embryonen zu überdehnen?« (149)
Die Antwort des Vf.s: Indem man auf beiden Seiten das Prinzipielle vermeidet. In der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle geschieht der noch unbestimmte Anfang. In der Erfahrung von Beziehung in der Familie und der als Achtung der Menschenwürde säkularisierten Zusage Gottes eröffnet sich der Raum zur vollgültigen Menschwerdung. Dieser Raum kann noch weiter werden in der von Gott eröffneten Sicht auf den ganzheitlichen Menschen, die auch von gesellschaftlichen Denkmustern frei sein lässt und das ungeborene Leben auch unter unmöglichen Voraussetzungen einschließen kann. Daraus lässt sich kein Gesetz machen. Aber die christliche Ethik kann mit dem Staat für die absolute Menschwürde einstehen und mit der Familie für die Freiheit zur Beziehung mit dem Ungeborenen. Darin kann und soll sie Gottes bedingungslose Zusage zum gewordenen, werdenden menschlichen Le­ben bekennen.
Ein Sonderfall bleibt die künstliche Befruchtung. Hier wird der Embryo öffentlich, und beim »Deutschen Mittelweg« (197) muss sich die Frau beim Blastozytentransfer zwischen mehreren Em­bryonen entscheiden. Der Zwang zur Selektion ist unvermeidlich und bleibt ambivalent – gerade weil der Vf. für die gottgewirkte Wahrnehmung des Anderen als Person wirbt und hier Fischer wohl näher ist, als er meint. Das ist nur konsequent und bestätigt sein eigenes Fazit (203): Er kommt von einem liberalen, weil relationalen Standpunkt ausgehend zu einer konservativen Antwort, die gleichwohl insofern liberal bleibt, als sie für die unterschiedlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen Raum lässt. Nicht diese definieren den Status des Embryo, sondern seine Herkunft und Zu­kunft aus der Hand Gottes.