Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1075–1077

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Dremel, Erik

Titel/Untertitel:

Nunc dimittis. Der Lobgesang des Simeon in Kirche, Kunst und Kultur.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 476 S. m. Abb. Kart. EUR 68,00. ISBN 9783374056989.

Rezensent:

Konrad Klek

In Zeiten, in denen sich auch die theologischen Wissenschaften immer weiter spezialisieren und als Fächerkulturen demzufolge eher auseinanderdriften, ist solch ein Buch ein bemerkenswerter Kontrapunkt: in multiperspektivischer Betrachtung das Zusammentragen vieler Aspekte zu einem Topos, der in der Frömmigkeits-, Liturgie- und Kulturgeschichte eine zentrale Rolle spielt – der Lobgesang des Simeon Lk 2,29–32. Dabei geht es nicht nur um das »Nunc dimittis« im engeren Sinne als in Liturgie, Lied und Kirchenmusik präsenter Gesang. Die Bedeutung und Auslegung der ganzen Simeon-Story ist im Blick, ihre Stellung im Kirchenjahr, ihre Widerspiegelung nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in der Literatur, die Spuren davon in der Volkskultur (»Lichtmess« und Einsegnung von Wöchnerinnen) usw. Da der 2. Februar in der Revision der Perikopen- und Kirchenjahresordnung durch die EKD jüngst deutlich aufgewertet wurde als fixer Abschluss des Weihnachtsfestkreises, kommt dieses Buch zur rechten Zeit mit seiner Erinnerung an die vielen Dimensionen dieses auf die Si-meongeschichte bezogenen Tages.
Erik Dremel, als Dozent für Liturgik und Kirchenmusik in Halle tätig, bringt für die selbst gestellte Aufgabe der kaleidoskopartigen Zusammenschau nicht nur theologische Expertise ein, sondern auch musik- und literaturwissenschaftliche, namentlich aus dem angelsächsischen Bereich, wo er sich längere Zeit zu Forschungen aufgehalten hat. Nicht zuletzt ist er der Praxis des Stundengebets und namentlich der Complet als »Sitz im Leben« des Nunc dimittis persönlich verbunden, was den vielschichtigen Resonanzraum eröffnet, der hier mit profunden Ausführungen in diverse Richtungen beschrieben wird.
Die exegetische Untersuchung zu Beginn ist eher eine homiletisch fruchtbare Betrachtung zu nicht weniger als 22 Einzelaspekten der Story. Exegeten haben also durchaus Anlass zu meckern, z. B. dass die spezifisch lukanische Form des »Canticums« kaum profiliert wird und inhaltlich kein Abgleich mit den Partnerge-sängen von Zacharias und Maria erfolgt. Aber da es in der Simeongeschichte gerade um das wahrhaftige Sehen geht, ist so eine vielschichtige homiletische Sehschule zum Bibeltext methodisch durchaus passend.
Fast 100 Seiten (mit diversen Abbildungen aus Agenden etc.) sind der liturgischen Verortung des Nunc dimittis und seiner Perikope gewidmet. Der Horizont ist weit (auch römische, byzantinische, anglikanische Liturgie) und jeweils detailgenau abgeschritten. Wie benannt sind zudem volkskulturelle Aspekte entfaltet. Zu würdigen ist die Aufarbeitung der jüngeren Geschichte der Wiederentdeckung der Complet im 20. Jh., besonders interessant die Ausführungen zur Rolle der katholischen Jugendcomplet in der Nazi-Zeit.
Auf 50 Seiten wird sodann ein breites Panorama von Predigten über die Simeonperikope referiert, angefangen bei Origines, Meister Eckhart und natürlich Luther, über die Hallenser »Größen« Francke und Schleiermacher bis zu K. Barth (1918), K. Niemöller, W. Stählin, E. Lange als Vertretern des 20. Jh.s; umfängliche Quellen-zitate erschließen sinnvoll fremde Gedankenwelten (z. B. A. H. Francke). Zu kurz kommt aber »Leichenpredigt und Sterbekunst« im Barockzeitalter. Dass der Simeon-Topos da sehr verbreitet war und insofern »gewöhnlich«, sollte die präzise Erschließung für die heutige Leserschaft nicht erübrigen.
Dass der Hymnologiedozent D. nur gut 30 Seiten mit »Das Nunc dimittis als Lied« füllt, verwundert etwas. Auch hier bleibt das »Gewöhnliche« in der Barockkultur unterbelichtet. Luthers »Mit Fried und Freud« wird natürlich präsentiert, aber dessen sprachprägende Wirkung für viele Sterbelieder der Folgezeit ist nicht im Blick. D. hält die barocke Fixierung auf Simeon als Vorbild seligen Sterbens für eine Einengung der Perspektive, weshalb er das wohl nicht vertiefen mag. Seine angelsächsische Schlagseite andererseits verhindert wohl die Würdigung der französischen Genfer Rezeptionsschiene, wo das Nunc dimittis (als einziges Canticum) von Anfang an zum Psalmliedkorpus dazu gehört!
Artifizielle Vertonungen des Nunc dimittis quer durch die Musikgeschichte sind dann in 90 Seiten Text (mit wenigen Notenbeispielen) erfasst. Hier erhält der exponierte Fall »Musikalische Exequien« von H. Schütz (1636) eine detaillierte Besprechung. Zwei Evensong-Kapitel erfassen wieder das anglikanische Spezifikum mit speziellen Untersuchungen zur musikalischen Gestaltung. Schade, dass wie oft bei Überblicksdarstellungen das Bachsche Œuvre – Einzelbesprechung aller relevanten Kantaten – für die barocke Kantate steht. Das »Gewöhnliche« der ganzen Breite von zeitgenössischen Kantaten zum 2. Februar wäre die Betrachtung gewiss wert, auch um zu profilieren, was bei Bach denn so besonders ist. Leider ist D. hier die Entdeckung des Librettisten zu BWV 82 »Es ist genung« vor wenigen Jahren entgangen.
Ein kleineres Kapitel »Das Nunc dimittis in der Literatur« verdankt sich dem Anglizist-Horizont D.s und wird für die meisten Leser eine Horizonterweiterung darstellen. Gewichtige 75 Seiten umfasst dann das mit zahlreichen Abbildungen bestückte Schlusskapitel zum Simeonmotiv in der Bildenden Kunst, von Byzanz über das Mittelalter bis zum detailliert vorgestellten Paradefall Rembrandt mit dessen zahlreichen Darstellungen. Man spürt, dass hier das Herz D.s besonders schlägt. Rembrandts eindrückliches letztes Gemälde, während dessen er den Pinsel aus der Hand legte, stellt auch das Cover des Buches. Darin korrespondiert es mit F. Mendelssohn Bartholdys (genau besprochener) Nunc dimittis-Verton ung in den für den englischen Evensong-Bedarf bestimmten Motetten op. 69 als letzter von ihm selbst arrangierter Drucklegung.
Auf ein Fazit, eine systematische Auswertung des vielschichtigen Befundes, oder auch nur auf ein erbauliches Schlusswort verzichtet D. Das Buch ist und bleibt ein Kaleidoskop, darin aber durchaus eine Sehschule für alle Christenmenschen in der Nachfolge Simeons, für die Lesenden in zahlreichen Aspekten sicher »erbaulich« je nach Vordisposition in Sachen Nunc dimittis. Schade ist, dass der Möglichkeit direkter Anschauung in den Bildern nicht auf musikalischem Gebiet eine beigelegte CD mit Klangdokumenten des Besprochenen korrespondiert und so die gerade auf diesem Gebiet intendierte »Erbauung« unterbleibt. Aber das hätte ein an­deres Buchformat erfordert.
Wissenschaftliche Detail-Einwände werden ggf. nicht nur Exe­geten, auch Musikhistoriker, Literaturwissenschaftler oder Kunstgeschichtlerinnen jeweils zu ihren Sachgebieten vorbringen können. Das bringt ein solches »Crossover«-Projekt stets mit sich. Die Gender-Fraktion wird bemängeln wollen, dass die Simeonperikope nicht prinzipiell als Simeon & Hanna-Geschichte Thema ist, wobei Hanna durchaus mit im Blick ist, namentlich im Exegese- und im Kunstgeschichte-Kapitel.
Der Rezensent erlaubt sich als Beleg für die »Aktualität« des Simeon-Topos abschließend den Hinweis auf zwei ganz neue Vertonungen, die D. in seinem Buch nicht mehr berücksichtigen konn­te: Der Stuttgarter Komponist Volkmar Fritzsche (Jg. 1936) wandte sich im Reformationsjubiläumsjahr 2017 dem Nunc dimittis-Sujet zu »in Zwiesprache mit M. Luther«. Die Uraufführung des ambitionierten Werks für Sopran und Orgel erfolgte im letzten Kirchenkonzert vor der Pandemie am 02.02.2020 in Erlangen. Ein Jahr zuvor erklang hier ebenfalls am Simeon-Tag die Choralkantate des Fürther Komponisten Uwe Strübing (Jg. 1956) zu Luthers Nunc dimittis-Lied (EG 519) für Soli, Chor und symphonisches Orchester, eine Auftragskomposition für die Erlanger Universitätsmusik.