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Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1069–1072

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Lies, Jan Martin [Hg.]

Titel/Untertitel:

Wahrheit – Geschwindigkeit – Pluralität. Chancen und Herausforderungen durch den Buchdruck im Zeitalter der Reformation.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. 368 S. m. 23 Abb. = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abtl. Abendländische Religionsgeschichte, 132. Geb. EUR 110,00. ISBN 9783525560372.

Rezensent:

Johannes Schilling

Der aus dem Forschungs- und Editionsvorhaben »Controversia et Confessio« hervorgegangene Band geht auf eine Tagung zurück, die vom 1.–3. März 2018 in Mainz stattfand. Er versammelt nach einer lesenswerten Einleitung des Herausgebers (9–17), der die Konditionen der Tagung und das Forschungsumfeld umreißt und den »kommunikativen Beschleunigungsvorgang« (12) in der Reformationszeit notiert, der u. a. zu einem »Kontrollverlust« der Autoren über ihre Veröffentlichungen führte, unter den Rubriken »I. Me­dien revolutionieren die Kommunikation«, »II. Der Umgang mit Meinungsvielfalt« und »III. Die Entstehung einer neuen Streitkultur« insgesamt 18 Beiträge zum Thema aus Theologie (Kirchengeschichte) sowie der Geschichts-, Medien- und Buchwissenschaft. Evangelische Beiträger überwiegen dabei, so wie das neue Medium vor allem den reformatorisch Gesinnten zugutekam; mit Klaus Unterburger, Martin Hille und Markus Müller sind aber auch katholische Autoren vertreten. Es gibt Wiederholungen oder weitgehende Wiederholungen von Altbekanntem, in die da und dort eine neue Kleinigkeit oder eine kleine Neuigkeit eingestreut wird, aber auch wirkliche Forschungsbeiträge. Ein Abbildungsverzeichnis, ein Bibelstellen-, ein Orts- und ein Personenregister sowie ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren beschließen den Band.
Stefan Füssel eröffnet den Band mit bekannten Ausführungen über »Gutenbergs Bedeutung für die Geistes- und Kulturgeschichte der Neuzeit« (21–38). Bemerkenswert ist die Erkenntnis der Autoren des 15. und 16. Jh.s, dass man in den Universitäten gute Texte für fundierte Forschung und Lehre brauchte – eine Errungenschaft, die gegenwärtig verloren zu gehen droht (oder zum Teil schon verloren gegangen ist). – Johann Anselm Steiger stellt in »Augsburger Interim und Bildmedien« (39–64) eindrucksvolle Beispiele aus Lübeck und Celle vor. Man vermisst dabei einen ausdrücklichen Hinweis, dass die Celler Schlosskapelle keine Gemeindekirche war und also die Wirkung ihres Bildprogramms nur einen sehr begrenzten Adressatenkreis erreichte. – Andrea Hofmanns Aufsatz »Das gedruckte Lied als Propagandainstrument« (65–81) bringt manches Geläufige und nicht viel Neues. – In einem Buch mit Forschungsbeiträgen erwartet man keinen Hinweis darauf, dass gedrucktes »w« als u ausgesprochen wird – und noch weniger, dass man »einen Herrn Raymund« (83) nicht identifizieren kann. So geschehen in Jürgen Wilkes »Die ›neue Zeitung‹« (83–108), in der einem auch noch der Schmalkaldische Bund erklärt (90), Hans Blumenberg dafür aber zu »BLUMBERG« verkürzt wird (98, Anm. 59). Grobe Fehler sind auch S. 105, letzte Zeile des Textes: statt »Lied« lies: Lieb; und S. 106, Zeile 8: statt des unverständlichen »heran« lies: her an. »Neue Zeitung« für eine Gattung zu halten und sie von der Gattung Flugschrift unterscheiden zu wollen (so 95), ist ohnehin ein Missgriff. – Henning P. Jürgens’ »Predigt und Buchdruck in der Reformationszeit« (109–121) bringt zwar viel Bekanntes, gibt aber auch Anregungen für weitere Studien. – Claudine Moulin schreibt über »Aufstieg der Volkssprachen, der Buchdruck und die Macht der Sprache«, bietet darin »Eine Fallstudie zur frühen Grammatikschreibung des Deutschen« (145–162) und betont das Vordringen des Hochdeutschen durch die Verbreitung der Lutherschriften; Eike Wolgast behandelt materialreich »Die Edition von Texten Luthers als Argumentationshilfe in den innerlutherischen Kontroversen der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts« (183–207); Martin Hille handelt unter dem Titel »Antichrist und Jüngster Tag« über Welt- und Gegenwartsdeutung im 16. Jh. (209–223); Hans-Otto Schneider, »›Die Wahrheit flieht das Licht nicht‹! Strategien öffentlicher Kommunikation im Umgang mit dem Interim« (241–252), gibt zu bedenken, ob der Umgang mit den Medien im Streit zwischen Flacius und Melanchthon nicht auch durch den Generationenunterschied bedingt war. Irene Dingel stellt in »Von der mittelalterlichen Disputation zum reformatorischen Religionsgespräch« die Frage »Neu organisiertes Streiten?«, dessen Veränderungen sie knapp und konzis darlegt. – Jan Martin Lies, »Lügenprediger. Die Behauptung und Verteidigung einer objektiven Wahrheit« (285–300) geht von konkurrierenden Wahrheitsansprüchen aus, die sich durch die Reformation ergaben, und beschreibt die Rolle des Buchdrucks in den Debatten, durch den »Ein-Deutigkeit« erzielt werden sollte, während Pluralität entstand und eingehegt werden musste (leider sind die Titelaufnahmen auf S. 291, 293 und 295 missglückt, und Eberlin heißt nicht »Günzburg« [so 293]).
Einige Beiträge sind besonders quellennah und deshalb weiterführend: Klaus Unterburger, »Volkssprachliche Übersetzungen der Bibel im 15. und 16. Jahrhundert« (163–180), ist ein quellengesättigter, mit Literatur aus vielen Sprachen reich belegter Beitrag zu der Frage der Übersetzung der Bibel in die Volkssprache. Aus ihm kann man ersehen, dass und wie kontrovers diese unter den Amtsträgern der Papstkirche gewesen ist. Es ist keineswegs so, dass die Übersetzungen überall verboten werden sollten; am Ende aber setzte sich das »Streben nach Sicherheit« (180) und damit das Verbot in der Kirche durch. Besonders lesenswert ist der Beitrag von Christian Volkmar Witt »Pluralität durch Aneignung ohne Pluralisierung des Angeeigneten?« (223–239), dessen »Beobachtungen zum seelsorgerlichen Grundzug der Theologie Luthers« ausdrückliche Nähe zum Titel des Bandes haben. Witt kommt am Ende auf das Problem von individueller Pluralität und Institutionen zu sprechen, ein Spannungsverhältnis schon in der Reformationszeit, dessen Auswirkungen gegenwärtig freilich besonders kräftig zu spüren sind. – Armin Kohnle stellt in »Religionsverhandlungen und Buchdruck. Die Vermittlung theologisch-politischer Regelungsversuche des Reiches an die Öffentlichkeit« (269–283) die »Leitfrage«: »Was konnten die nicht direkt beteiligten Zeitgenossen über die Behandlung der Religionsfrage im Reich aufgrund von Druckschriften tatsächlich wissen?« (269) und beantwortet sie wie gewohnt zuverlässig: »dass mit wenigen Ausnahmen alle wichtigen Entscheidungen für das interessierte zeitgenössischen Publikum zeitnah öffentlich zu­gänglich waren« (282). Auch seine Hinweise auf Forschungsdesiderate verdienen Beachtung. – Hans-Peter Hasse, »Verbotene Bücher. Zensur im Protestantismus« (301–314) stellt den Fall des Gnesiolutheraners Matthäus Judex (Richter, 1528–1564) vor, dessen brisante Schrift »De typographiae inventione et de praelorum legitima inspectione …« über die Zensur im Reich nicht erscheinen konnte, sondern 1566 in Kopenhagen gedruckt wurde. – Stefan Michel trägt mit »Gottesdienststörungen und Gehorsamsgebot. Zugleich ein Beitrag über reformatorische Uniformität und Pluralität der 1520er Jahre« (315–330) neue Kenntnisse aus den Archiven bei. An Fallbeispielen handelt er von Predigtstörungen und umreißt zudem Fragestellungen, denen man künftig nachgehen könnte – und sollte, will man ein weiter differenziertes Bild von den »Reformationen« vor Ort gewinnen. – Markus Müller, »Einheitswunsch und Ordnungsversuch. Die Expurgation(en) des Mainzer Dompredigers Johann Wild OFM« (331–346), stellt den Erfolg des Franziskaners auf dem deutschen und europäischen Buchmarkt und seine seelsorgerliche und irenische Grundhaltung dar (das unverständliche »Vafricies« auf S. 342, Anm. 70, muss wohl heißen: vera facies).
Ein richtiges Ärgernis ist der ohnehin wenig inspirierte Beitrag von Bridget Heal »Die Druckerpresse und die Macht der Bilder« (123–144) in einer liederlichen Übersetzung von Saskia Limbach und Martin Christ. Man reibt sich die Augen: »resurrection« wird tatsächlich mit »Wiederauferstehung« wiedergegeben, »biblical re­ferences« mit »biblische Referenzen« statt Bibelstellen, und »hymnary« mit »Hymnarium«. Offenbar haben die Übersetzer noch nie ein Gesangbuch in der Hand gehabt. Die Zahl der Kommafehler überschreitet das Dutzend, und auch sonst fehlt der Bearbeitung schon der vorletzte Schliff.
An etlichen Beiträgen lässt sich beobachten, dass die Präzision in der Literaturrecherche und die sprachliche Sorgfalt nachlassen. Da fehlt neuere Literatur zum jeweiligen Thema, da werden Sekundärzitate eingestreut, statt in die Quellen zu schauen, und weil es bequemer ist, benutzt man die alte Auflage eines Handbuchs anstelle der aktuellen. Es gibt falsche Kasus (22.134.293.295.298), ebenso falsche Konditionale anstelle von Konjunktiven (292.308. 323.327 f.342); »lehren« steht mit dem Akkusativ, nicht mit dem Dativ (34), ein Adverb gerät zum monströsen »Auffälliger Weise« (57), »wo« steht anstelle von »an dem« (161), und der Gebrauch von »ab« (67.161 f.168.238.328) statt ›seit‹ grassiert. Kommafehler gibt es zuhauf – eine Folge der »Rechtschreibreform« –, und die Trennung von »pseaumes« in »pse-aumes« (76/77) ist übel. Ungläubig liest man eine Datierung »nach Christi« (215) und vom »zweiten Paulus-Brief an Thimotheus [!]« (215); »Missale« erscheint als Plural – kann man der Leserschaft eines solchen Buches »Missalia« wirklich nicht mehr zumuten? Mit »Profanisierung« (293) ist Profanierung ge­meint. Falsche Benennungen von Institutionen, so »Zentral Bibliothek [recte: Zentralbibliothek] Zürich« (105 f., Anm. 96 und 99), sollten nicht vorkommen, und Banalitäten werden mit Literaturangaben versehen – es gibt auch noch einen gesunden Menschenverstand. Mal sind VD16-Nummern angegeben, dann fehlen sie wieder. Und die hässlichen URL-Katenen braucht man zumeist nicht.
Solche Monenda sind je für sich Kleinigkeiten, über die man womöglich großzügig hinwegsehen könnte. Aber in der Häufung sind sie Anzeichen schwindender Disziplin – und darüber kann und darf man nicht hinwegsehen. Sonst werden die Kleinigkeiten in absehbarer Zeit zu Problemen.