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Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1063–1065

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Tilly, Michael, u. Ulrich Mell[Hgg.]

Titel/Untertitel:

Gegenspieler. Zur Auseinandersetzung mit dem Gegner in frühjüdischer und urchristlicher Literatur.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. VIII, 439 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 428. Lw. EUR 149,00. ISBN 9783161560965.

Rezensent:

Felix John

Von der Auseinandersetzung mit gegnerischen Positionen leben gewissermaßen sowohl die frühjüdische als auch die neutestamentliche und die altkirchliche Literatur. Von Fall zu Fall sind sowohl reale Konflikte als auch ihre literarische Darstellung und Bearbeitung unterschiedlich gelagert. Daher sind Einzeluntersuchungen nötig, wie sie der vorliegende Band versammelt. Die meisten der Beiträge gehen auf ein Hohenheimer-Tübinger Symposium (2015) zurück.
Der einleitende Beitrag Oda Wischmeyers bietet eine Bestandsaufnahme zur Gegnerpolemik in den neutestamentlichen Schriften und benennt einige literarische Grundoptionen, etwa Anonymität und Fiktivität der Gegner. Auch die Selbstvergewisserung oder die Ermahnung der Adressaten könnten Ziele der Autoren ge­wesen sein.
Mit frühjüdischen Texten beschäftigen sich die Beiträge von Evangelia G. Dafni und Ekaterina Matusova: Alexander der Große sei in 1Makk kein Gegner, wohl aber seine Epigonen. Dass Juden und Jüdisches bei Philo »Chaldäer« bzw. »chaldäisch« genannt werden, könnte mit einer Selbstbezeichnung zusammenhängen, die im Umfeld der Konflikte in Alexandria eine Rolle spielte.
Die sich mit paulinischen Texten beschäftigenden Beiträge rekonstruieren jeweils unterschiedliche Gemengelagen im Hintergrund der Briefe. So erlaube etwa der 2Kor (Manuel Vogel) keine Rekonstruktion des theologischen Profils der Konkurrenten. Denn nicht jeder Gedanke reagiere auf einen gegnerischen Punkt. Es gehe auch gar nicht um Sachfragen, sondern um die Autorität des Apostels: Anfeindungen, auf die Paulus bereits im 1Kor reagiert habe.
Eve-Marie Becker fragt, wie Paulus in Phil 2,1–4 Demut als zentrale christliche Tugend etablieren und gleichzeitig heftig polemisieren kann (Phil 3,2–4; 3,18). Rhetorisch dienten die gegen – vermutlich nicht reale – Demutsverächter gerichteten Passagen als Kontrast zu den angeführten Positiv-Exempla.
Anders liegen die Dinge beim Gal, der, wie Dieter Sänger herausarbeitet, »[p]lurale Konfliktlinien« als historischen Hintergrund erkennen lässt. Der massive Konflikt mit den gemeindeexternen, innerjudenchristlichen Konkurrenten resultiere aus der beschneidungsfreien Mission, die sich für Paulus aus dem Damaskuserlebnis und der dadurch eingetretenen Neubewertung der Tora ergeben habe. Strittig seien die Punkte Beschneidung, Festkalender und Speisegebote gewesen. Gegenüber den Briefadressaten und mittelbar auch den Gegnern baue Paulus seine Argumentation auf dem Basis-Satz von Gal 2,16 auf, der vermutlich aus Antiochien stamme. Ob mit Erfolg, bleibe im Ungewissen.
Die jeweiligen Entstehungssituationen der Past, für Jens Herzer teils paulinisch, teils pseudepigraph, spiegelten sich auch in der un­terschiedlichen Gegnerauseinandersetzung wider. In dem authentischen Mandatsschreiben Tit dränge die primär Klischees aufrufende Invektive (Tit 1,10–16) den Einfluss innerjudenchristlicher Paulus-Konkurrenten zurück. Ähnlich sei der ebenfalls echte, testamentsartige 2Tim ausgerichtet, der jedoch auf den Einsatz von Invektiven habe verzichten können. Im pseudepigraphen 1Tim träten Klischees zurück hinter die Auseinandersetzung mit einer heterodoxen Gruppe (»Gnosis«).
Mit der Erwähnung von Jannes und Jambres innerhalb der Ar­gumentation des 2Tim beschäftigt sich Hermann Lichtenberger. Zugrunde liege jene Überlieferung, die die beiden als innerisraelitische Konkurrenten Moses darstellt. Ihre Widerständigkeit und ihr Unverstand dienten als Vergleichspunkt der Gegnerpolemik des Schreibens.
Korinna Zamfir blickt insbesondere vom 1Tim aus über die Kanongrenze hinweg auf die A. Paul. et Thecl. Die dort belegten asketischen Tendenzen ähnelten jenen, die im 1Tim kritisiert würden. Beide Parteien beriefen sich auf Paulus, jedoch in eigener In­terpretation.
Die Gegnerschaft im Kol rekonstruiert Peter Müller: Innnerchristliche, nichtfiktive Konkurrenten seien im Blick, denen die Nichtanerkennung Christi als Haupt aller Mächte unterstellt würde. Ihr Christentum weise Affinitäten zum Judentum sowie zu allgemein verbreiteten Elementen antiker Religionen auf. Sie blieben anonym, um eine Spaltung der Gemeinde zu verhindern und Einzelne zur stillschweigenden Korrektur zu motivieren.
Dem Jud widmet sich der Beitrag von Wolfgang Grünstäudl. Gegenspieler seien hier Ekstatiker, die auf eigene visionäre Erlebnisse verwiesen hätten. Mit Hinweis auf Just. Dial. bestimmt Grünstäudl Jesus als Subjekt des schwierigen Verses Jud 5. Daher gehe es auch in Jud 8 um die Verachtung der »Herrschaft« Jesu.
Der Hebr lässt Wolfgang Kraus zufolge keine Rekonstruktion einer Gegnerauseinandersetzung im engeren Sinne zu. Zentral sei die Rede von dem einen Gottesvolk. Der Hebr mit seiner Hohenpriesterchristologie bewege sich in einem jüdisch geprägten Milieu und reagiere auf äußere Bedrängnisse sowie die Gefahr des Verlassens der Bekenntnisgrundlagen im Innern.
Zwei Studien beschäftigen sich mit neutestamentlichen Erzähltexten. Die innerhalb der erzählten Welt des Markusevangeliums gegen Jesus Arbeitenden analysiert Martin Meiser unter Anlegung narratologischer Kriterien. Das Erzählte werde auf die Abfassungszeit hin transparent, etwa bei Themen wie Reinheit oder Ehe(scheidung). Jesu ›Prozess‹ spiegele Verfolgungserfahrungen, Judas das Denunziantentum von innen, Streitgespräche und Konflikte den schwierigen Sonderstatus des Frühchristentums in jüdischen wie paganen Kontexten.
Gert J. Steyn untersucht den Konflikt des lukanischen Paulus mit »den Juden« in Thessaloniki (Act 17,1–10). Literarisch würden primär innerjüdische Spannungen zwischen Christusorientierten und traditionell Eingestellten dargestellt. Lukas weiche so die Juden-Heiden-Trennlinie auf.
Auf dem Feld der altkirchlichen Literatur blickt Julia A. Snyder auf die A. Petri. Als Gegenspieler des Petrus träten hier Römer (wie etwa Nero) sowie als Hauptgegner Simon auf, der die Verkündigung des Paulus und des Petrus zu unterminieren versuche. Er stehe möglicherweise für reale nicht-christusgläubige jüdische Kritiker.
Mit einem ihrer Vertreter scheint sich in Gestalt des Tryphon auch Justin auseinanderzusetzen, wie Katharina Greschat zeigt. Doch bei den Gesprächen mit Tryphon wie auch mit Crescenz handele es sich um literarische Inszenierungen, die das Christentum (des Justin) als sogar dem Platonismus überlegene, einzig wahre Philosophie erweisen sollen. Dasselbe Begründungsmuster liege auch Justins Argumentation gegen innerchristliche Antagonisten zugrunde, etwa gegen die Valentinianer.
Diesen Widerparts Justins widmet sich der Beitrag von Geoffrey S. Smith. Es handele sich um ein eher loses Netzwerk mit unterschiedlichen Verbindungslinien zu Valentinus. Justins Polemik erlaube die Rekonstruktion ihrer Lehre allenfalls ansatzweise.
Mit Petrus als Gegenspieler der Maria von Magdala des EvMar beschäftigt sich schließlich Tobias Nicklas. Analysiert wird zu­nächst die intratextuelle Ebene. Intertextuell liege die Bezugnahme auf Joh 20 auf der Hand. In der Echtwelt sei es wohl nicht um ein anti-petrinisches Christentum gegangen, sondern um den Aufweis, dass Frauen Offenbarungen empfangen und weitergeben dürfen (vgl. Past).
Die Einzelstudien dieses Sammelbandes weisen manche Zu­sammenklänge auf, sei es bei den Beobachtungen zu literarischen Strategien, sei es bei der Identifizierung historischer ›Gegnerfronten‹. Und: Dass sich in vielen Fällen nicht allzu viel Sicheres über die jeweiligen Gegenspieler – wenn es sie überhaupt gab – und ihre Profile sagen lässt, erscheint als nur relatives Manko. Denn wie die Beiträge des Bandes auf anregende Weise zeigen, beleuchtet die Analyse der Gegnerauseinandersetzung zentrale Charakteristika der untersuchten Schriften.