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Ausgabe:

Oktober/2021

Spalte:

974–976

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Miesner, Anje Caroline

Titel/Untertitel:

Sich geben lassen. Das Abendmahl als wirkmächtiges Ereignis.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XI, 268 S. = Dogmatik in der Moderne, 31. Kart. EUR 79,00. ISBN 9783161588907.

Rezensent:

Markus Buntfuß

Kirchenkritische Ambitionen sind nicht nötig, es genügt, hin und wieder an einem Abendmahlsgottesdienst teilzunehmen, um auf die Frage »Was geht vor beim Abendmahl?« in Bezug auf die religiöse Erlebnisintensität und ihre existentielle Lebensveränderungskraft der Antwort zuzuneigen: Manchmal gar nichts. Zu weit klaffen theologischer Anspruch und liturgische Gestaltung, pastorale Performanz und persönliche Erfahrungsdisposition bzw. individuelle Deutungskompetenz auseinander. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Die von theologischen Experten konfessionell verantworteten, liturgisch gestalteten und agendarisch verordneten Formen und Formeln erschließen sich in ihrer theologischen Differenziertheit nur wenigen Eingeweihten. Auch viele Versuche, die als ursprünglich vermeinte Bedeutung mit neuen Worten zu kommunizieren und in neuen Formen zu feiern, geraten bisweilen unbeholfen und setzen die Teilnehmenden einer eher peinlichen als heilsamen Berührung aus. Einer »hohen Theologie« des Abendmahls stehen nicht selten die Niederungen der kirchlich-gemeindlichen Abendmahlspraxis gegenüber. Ausnahmen brauchen nicht geleugnet zu werden und an Best-Practice-Beispielen fehlt es nicht. Gerade deshalb aber muss sich eine dogmatische Theologie des Abendmahls heute fragen lassen, zu welcher kirchlich-religiösen Praxis sie die theologische Reflexion zu sein beansprucht. Vor diesem Hintergrund hat die Verfasserin der anzuzeigenden Studie anscheinend intensive Erfahrungen gemacht, wenn sie das Abendmahl als »wirkmächtiges Ereignis« verstehen und dogmatisch begründen will.
Das Buch von Anje Caroline Miesner ist die überarbeitete Fassung ihrer Dissertation, die 2018 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Philipps-Universität Marburg angenommen und als Band 31 in die Reihe »Dogmatik in der Moderne« aufgenommen wurde. Die klar und verständlich geschriebene Studie unternimmt den zwar nicht neuen, aber eigenständigen Versuch, die unterschiedlichen ethnologisch-kulturwissenschaftlichen und soziologisch-philosophischen Theorien über »die Gabe« seit Marcel Mauss’ grundlegendem »Essai sur le don« (1925) für eine theologisch-dogmatische Interpretation des Abendmahls fruchtbar zu machen (merkwürdigerweise fehlt sowohl ein Hinweis als auch eine Auseinandersetzung mit der Studie von Martin Wendte: Die Gabe und das Gestell. Luthers Metaphysik des Abendmahls im technischen Zeitalter, Tübingen 2013).
Die Monographie gliedert sich in drei Hauptteile. Im Teil A. stellt M. die für ihre Fragestellungen wichtigsten Gabetheorien vor, die sie in drei Gruppen einteilt: 1. Gabetheorien, die im An­schluss an den »Essai sur le don« nach der gesellschaftlichen Funktion des wechselseitigen Sich-Beschenkens fragen und die Gabe als soziales Kommunikationsgeschehen verstehen, in dem wechselseitig Anerkennung gewährt, aber auch Bindungen und Abhängigkeiten er­zeugt werden können. 2. Die philosophischen Gabespekulationen von Martin Heidegger, Jean-Luc Marion und Jacques Derrida, die den Gedanken einer »reinen«, also einseitigen Gabe meditieren, die dann in einem emphatischen Sinne als »Er­eignis« gedeutet wird und eine identitätsstiftende Funktion auf Seiten des Empfangenden erfüllen soll. Hierbei spielen auch technik- und modernekritische bzw. kapitalismuskritische In­tentionen eine Rolle. 3. Überlegungen von Emmanuel Lévinas und Derrida, bei denen es um die Verantwortlichkeit der Gabe und ihren ethischen Charakter in Gestalt einer Forderung des Anderen an das eigene Ich geht.
In Teil B. widmet sich M. der bisherigen Rezeption jener Ga-bediskurse hinsichtlich einer theologischen Interpretation des Abendmahls. Dabei unterscheidet sie zwischen einer Rezeption der Theorien zur wechselseitigen Gabe und einer Rezeption der Theorien zur einseitigen Gabe, wobei sie jeweils auf katholische und protestantische Positionen gesondert eingeht. Auf diese Weise entsteht ein systematisch geordnetes und übersichtliches Bild des bisherigen Gabediskurses außerhalb und innerhalb der Theologie, das M. mit einer Zusammenstellung der ihrer Einschätzung nach wichtigsten Themen in Bezug auf das Abendmahl resümiert: 1. Das Verhältnis von katabatischer und anabatischer Gabebewegung im Abendmahl; 2. Die Veränderung der Feiernden durch die Gabe des Abendmahls; 3. Das Verhältnis von Präsenz und Entzug; 4. Das Verhältnis von Wort und Element.
Halten sich die Teile A. und B. im methodischen Modus der kritisch-vergleichenden Darstellung, so erhebt M. im Teil C. den Anspruch, einen eigenen systematisch-dogmatischen Entwurf zum Abendmahl als Gabe vorzulegen. Dieser zielt auf den Erweis, »dass das Abendmahl ein Erschließungsgeschehen darstellt, bei dem die Feiernden die Bedeutung der Selbstfestlegung Gottes im Geschehen von Kreuz und Auferstehung für ihr eigenes Leben erkennen.« (6) Der Gedankengang dieses Teils hebt mit exegetischen, systematischen und gabetheoretischen Überlegungen an, in denen sich M. u. a. mit Luthers Abendmahlstheologie sowie den aktuellen Positionen von Notger Slenczka und Dietrich Korsch auseinandersetzt, um sich bei ihren eigenen Überlegungen vor allem auf Ingolf U. Dalferths Verständnis der Passivität der Gabe und der neuschöpferischen Kraft ihres »Bekommens« zu stützen. Im Zentrum der materialen Entfaltung stehen der metaphorische und der ereignishafte Aspekt des Abendmahls, dessen systematische Bedeutung in drei Dimensionen zusammengefasst wird: a) Abendmahl und Gewissheit, b) Abendmahl und Sünde, c) Abendmahl und die Eröffnung von Möglichkeiten (Selbstannahme, konstruktiver Um­gang mit Schuld und Gemeinschaft).
In einem Ausblick werden die gewonnenen Einsichten hinsicht­lich der gottesdienstlichen Feier des Abendmahls in der Gemeinde reflektiert und mit Empfehlungen zur liturgischen Gestaltung sowie zur Frage nach den Teilnahmevoraussetzungen für das Abendmahl verbunden. M. plädiert dabei für die Austeilung des Abendmahls auch an Kinder und für die Taufe als hinreichendes Kriterium für die Zulassung zum Abendmahl.
Für einen Überblick und eine Anregung zur Interpretation des Abendmahls als Gabe ist die gut leserliche Arbeit bestens geeignet. Als hilfreich erweisen sich dabei auch die zahlreichen pointierten Fazits und Zusammenfassungen. Die gabetheoretische und theologische Selbstpositionierung M.s auf Seiten der philo-sophisch-heterologischen Theorien einer einseitigen Gabe und einem passiven Sich-Geben-Lassen im religiösen Vollzug der Abendmahlsfeier ist freilich eine im besten Sinne diskussionswürdige Entscheidung. Deshalb sei hier nur die Frage gestellt, ob es theologisch (und philosophisch) wirklich erschließungsreicher ist, sich an den spekulativen Theorien zur reinen und einseitigen Gabe, an deren »unmöglicher Möglichkeit« (Derrida) und in Entsprechung dazu an einem bloß passiven Empfangen bzw. »Be­kommen« (Dalferth) zu orientieren, anstatt den auch empirisch gesättigten Anregungen durch die kultur- und sozialwissenschaftlichen Gabetheorien zu folgen, die von einem wechselseitigen Geben und Nehmen sowie einer wechselseitigen Anerkennung der am Gabegeschehen beteiligten Akteure ausgehen. Natürlich wären die Folgen für den überkommenen Gottesgedanken und das überlieferte lutherische Heils- und Abendmahlsverständnis ungleich weitreichender als in der vorliegenden Arbeit. Doch vor einschneidenden Transformationen braucht eine »Dogmatik in der Moderne«, die auch eine moderne Dogmatik sein will, nicht zurückschrecken.