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Ausgabe:

Oktober/2021

Spalte:

955–957

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begr. v. F. Ueberweg. Völlig neu bearb. Ausgabe. Hgg. v. L. Cesalli u. G. Hartung. Die Philosophie des Mittelalters. Bd. 1

Titel/Untertitel:

Byzanz. Judentum. Hgg. v. A. Brungs, G. Kapriev u. V. Mudroch.

Verlag:

Basel: Schwabe Verlag 2019. XXVII, 362 S. Lw. EUR 160,00. ISBN 9783796526237.

Rezensent:

Peter Tarras

Wer sich in Studium oder Forschung mit Themen der Philosophiegeschichte befasst, kommt um den Blick in »den Ueberweg« nicht herum. In seiner historischen wie systematischen Prägnanz und bibliographischen Ausführlichkeit ist der seit 1983 in zweiter Neubearbeitung befindliche Grundriss der Geschichte der Philosophie seit Langem Standardreferenzwerk des Fachs. Der hier zu besprechende Band steht innerhalb des Grundrisses am Anfang der auf fünf Bände ausgelegten Reihe Die Philosophie des Mittelalters und behandelt die Philosophie in Byzanz und im Judentum. Im »alten Ueberweg« wurde beides auf nicht einmal 20 Seiten abgehandelt (in späteren Auflagen geringfügig vermehrt). Eine derartige Verknappung ist angesichts des Fortschritts philosophiehistorischer Forschung, insbesondere zu nichtwestlichen Traditionen, nicht mehr zu rechtfertigen. Es ist daher folgerichtig und sehr zu begrüßen, byzantinische und jüdische Philosophie im Grundriss repräsentiert zu sehen. Die Entscheidung, sie trotz inhaltlicher Unverbundenheit in einem Band den vier Bänden zur lateinischsprachigen Philosophie des Mittelalters gegenüberzustellen, ist dagegen, ungeachtet der hervorragenden Arbeit, die auf fachlicher Ebene geleistet wurde, einer der konzeptionellen Irritationsmomente dieser Publikation. Ich möchte dies nach einer kurzen Inhaltsübersicht thematisieren.
Der Band umfasst neben dem Reihenvorwort (R. Imbach, P. Schulthess; XI–XIX) und einem Vorwort zum Band (A. Brungs, V. Mudroch; XXI–XXVI) zwei heterogene Teile. Der von Y. Schwartz verfasste zweite Teil zur jüdischen Philosophie unterscheidet sich als »Methodengeschichtlicher Aufriss zur Historiographie der Philosophie im Judentum« von der chronologischen Darstellung des ersten Teils zur byzantinischen Philosophie. Dieser deckt in sechs Kapiteln das 4. bis 15. Jh. ab. Der eigentliche Beginn byzantinischer Philosophie wird im 7. Jh. verortet und mit einem »neue[n] Kulturparadigma« (6) begründet, das leider keine eigene Behandlung erfährt. Den Löwenanteil verfasste der Mitherausgeber G. Kapriev; für einen Teil der Beiträge zeichnen K. Ierodiakonou, J. A. Demetracopoulos und T. Boiadjiev verantwortlich.
Die einzelnen Kapitel des ersten Teils verfolgen zumeist einen autorenzentrierten Ansatz. Abzüglich der Behandlung »vorbyzantinischer Traditionsstränge« im ersten Kapitel, die zentrale patris-tische Autoritäten herausgreift, werden beginnend mit Maximus Confessor und endend mit Matthaios Kamariotes insgesamt 59 Denker gewürdigt. Ab Kapitel 2 orientieren sich die oft äußerst knappen Einträge grob an der im Grundriss üblichen Gliederung in Primärliteratur, Leben, Werkbeschreibung, Lehre und Wirkung. Sekundärliteratur ist ausführlich am Ende des ersten Teils (242–299) bibliographiert. Jedoch wurden »keine Titel in slawischen, insbesondere nicht in kyrillischer Schrift notierten, Sprachen« aufgenommen, weshalb die Dokumentation des Forschungsstandes, wie man selbst einräumt, unvollständig bleibt (XXV). Die Bibliographie des zweiten Teils (343–351) ist selektiv und nach verschiedenen, dort zur Sprache kommenden Themen gegliedert. Am Ende des Bandes stehen ein konzises Sach- und Namenregister.
Ich möchte nun einige Probleme der Konzeption ansprechen. Sie schulden sich größtenteils dem historiographischen Ansatz des Grundrisses, wie er im Reihenvorwort skizziert wird. Neben der an Jahrhunderten orientierten chronologischen Darstellung sind in erster Linie die Kategorien Sprache, Ort und Institution für die Darstellung bestimmend (XI). Für das Denken in Byzanz lassen sich sprachlicher und geographischer Rahmen relativ problemlos fassen. Sie sollten aber nicht andere, bestimmende Bezugsrahmen überdecken, wie dies im Fall des »frühbyzantinischen« Theologen Theodor Abū Qurra geschehen ist (31). Der außerhalb der Reichsgrenzen wirkende, auf Arabisch und Syrisch schreibende und auf Griechisch (sowie Georgisch) überlieferte Autor wurde in einem Maße ›gräzisiert‹, das von der Forschung nicht gedeckt ist: Es gibt keine Hinweise darauf, dass er selbst Griechisch schrieb oder aus dem Griechischen übersetzte. Was die Kategorie der Institution betrifft, so wird sie mit der Feststellung, dass »es keine Institution gab, die speziell der Philosophie gewidmet war« (7), im Grunde für unbrauchbar erklärt. Ort und Sprache werden mit Bezug auf die jüdische Philosophie als Begründung angeführt, ihre Darstellung auf insgesamt neun Bände und sechs Reihen des Grundrisses zu verteilen (XVIII; vgl. auch 307 f.314). Jüdisches Denken bedarf den Herausgebern der Reihe zufolge einer »Integration in ein Projekt globaler Philosophiegeschichtsschreibung«. Dabei hätte doch entsprechend der Reihe Philosophie in der islamischen Welt, deren Ge­genstand sich genau besehen ebenso wenig durch sprachliche oder geographische Einheit auszeichnet, und die sich inhaltlich gleichermaßen in vielen Punkten mit der Mittelalter-Reihe berührt, eine Schwesterreihe zur jüdischen Philosophie an die Seite stellen lassen. Stattdessen muss widersprüchlich die Nichteinheit einer doch offenbar anhand des Begriffs »langes jüdisches Mittelalter« historiographisch fassbaren Einheit postuliert werden.
Gerade an diesem Begriff zeigt sich aber, dass die herkömmliche Epocheneinteilung für den zu behandelnden Gegenstand modifizierungsbedürftig, wenn nicht gar aufzugeben ist. Das gilt auch für die byzantinische Philosophie, die konsequenterweise gar nicht als byzantinische Philosophie des Mittelalters angesprochen wird (vgl. XXV). Das »jüdische Mittelalter« wird explizit in Abhängigkeit vom lateinisch-christlichen bestimmt. Schwartz lässt es im 9. Jh. beginnen und vage in der »Zeit der Emanzipation und Assimi-lation« (308) enden. Dieses Vorgehen verstärkt einen unguten Eindruck der Gesamtkonzeption des Bandes: Jüdisches und byzantinisches Denken scheinen als Randphänomene west- und zentraleuropäischer Philosophiegeschichte doch irgendwie zusammengehören. In Anbetracht der Überlegungen, die Schwartz hinsichtlich eines tatsächlich nötigen »besseren« historischen Narrativs an­stellt, muss sich der Begriff ›Mittelalter‹ als unnütz erweisen. Soll doch eine spezifische Polyzentrik jüdischen Denkens durch Mikrohistorien abgebildet werden (334.339).
Spezifität einer Denktradition ist ein weiteres Konstrukt, von dem es sich zu verabschieden gilt. Die von einem als genus proximum gesetzten antiken Philosophiebegriff stimulierte Suche nach solchen differentiae specificae (vgl. 9.310) hat eine historiographisch exkludierende Wirkung, die in der Vergangenheit Anlass gab, die Qualifikation nichtwestlichen Denkens (inklusive des jüdischen und byzantinischen) als Philosophie in Frage zu stellen. Sie muss notwendig in einem widersprüchlichen Philosophiebegriff münden, der zugleich universal und partikulär sein soll. Bei der jüdischen Philosophie führt dies zur haltlosen Behauptung, dass sie allein für die sprachliche Form Eigenständigkeit beanspruchen könne (310 f.324).
Der Band gibt trotz der genannten Schwächen im ersten Teil einen soliden Überblick über die Geschichte byzantinischer Philosophie und im zweiten wertvolle Anregungen zur Methodendiskussion der Philosophiegeschichte. Eine Reihe zur Philosophie im Mittelalter mit zwei Traditionen zu beginnen, die sich nur schlecht in die philosophiegeschichtliche Schublade »Mittelalter« fügen, mag in einer Hinsicht ungünstig erscheinen. In einer anderen ist es ein mutiges Signal, dass sich das philosophiehistorische Wissen in einem unvermeidbar gewordenen Wandlungsprozess der Infragestellung, Öffnung und Diversifizierung des westlich geprägten Kanons befindet. Hierfür auch die passenden historiographischen Mittel zu finden, ist eine der drängendsten Aufgaben des Fachs.