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Ausgabe:

Oktober/2021

Spalte:

951–953

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Ohst, Martin [Hg.]

Titel/Untertitel:

Schleiermacher Handbuch.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XIII, 535 S. = Handbücher Theologie. Kart. EUR 59,00. ISBN 9783161503504.

Rezensent:

Michael Moxter

Handbücher zu bedeutenden Köpfen der Theologiegeschichte sind inzwischen gut eingeführt und bewährt, und selbstverständlich haben Verlag und Reihenherausgeber Recht, dass Schleiermacher ein solches unbedingt verdient. Erwarten darf man Miniaturstudien, die einerseits im Detail verlässlich sind, ohne alle Einzelheiten auszubreiten, andererseits aber auch Überblick, Einführungen und Zusammenfassendes bieten. Denn anders als die einschlägigen Kongressbände, die sich vor allem an die Schleiermacherforschung adressieren, will und soll ein Handbuch studentische Leserinnen und Leser und andere Interessierte einführen, ihnen Kontexte erschließen, Interpretationsprobleme markieren und den Stand der Forschung repräsentieren. Oder mit dem Herausgeber Martin Ohst gesprochen: Die Lebensstationen, Tätigkeitsfelder und literarischen Dokumente Schleiermachers bilden »den eigentlichen Fokus dieses Handbuchs, das seine Leser zur eigenständigen Kenntnisnahme ermutigen will, indem es Einführungen und Hilfen zur Kontextualisierung der Texte bereitstellt sowie Hinweise auf die Rezeptions- und Forschungsgeschichte bietet« (2).
Wessen Leser? Die des Handbuchs oder die Schleiermachers? Die Frage ist nicht aus der Luft gegriffen. Denn das Handbuch verfährt »dezidiert in historischer Perspektive, nämlich werkbiographisch« (2) und führt also von den Jugendjahren Schleiermachers über Berlin, Stolp, Halle zurück nach Berlin und präsentiert Schleiermachers jeweils einschlägige Texte in ihren Kontexten. Das impliziert die Vorstellung, das Handbuch solle als Ergänzung etwa zu No­waks Schleiermacherbiographie gelesen werden, es führe von den Anfängen bis zum Tod Schleiermachers und bereite die Rezeptions- und Interpretationsgeschichte von der zeitgenössischen Wahrnehmung bis zur gegenwärtigen Forschung auf. Wer es folglich als begleitendes Hilfsmittel der eigenen Lektüre einzelner Werke Schleiermachers verwenden will, ist bestens beraten und kann sich über den jeweiligen Text und dessen historischen Ort informieren. Anders sieht es aus, wenn bei der eigenen Schleiermacherlektüre andere Fragen entstehen, Fragen des Typs: Was genau ist eigentlich eine psychologische Interpretation? Wo spricht Schleiermacher sonst noch von Selbstbewusstsein? Was meint der Begriff des darstellenden Handelns? Was denkt der Autor über Volk und Nation? Im Blick auf solche Themen entsteht ein Problem, weil immer nur der jeweilige Text im historischen Umfeld, nicht aber Querschnittsthemen, intertextuelle Bezüge oder Begriffsgeschichten auffindbar sind.
Das Problem hätte durch ein Begriffsregister abgemildert werden können, aber erstaunlicherweise fehlt ein solches Hilfsmittel (ein freilich unvollständiges Personenregister ist vorhanden). Für die Orientierung suchende Leserschaft bedeutet das zum Beispiel, dass sie immer schon wissen muss, worum es in den »Briefen bei Gelegenheit« geht, um im entsprechenden Abschnitt instruktive Ausführungen zu Schleiermachers Verhältnis zum Judentum zu finden (Autor: Hans-Martin Kirn, 128–137). Sie bleibt aber ohne jede Unterstützung, wenn sie in umgekehrter Suchrichtung nach dem Thema fragt und dafür einen Bezugstext sucht. Zu bedauern ist auch, dass ein Querverweis auf andere für dieses Verhältnis einschlägige Texte wie etwa die Einleitung in die Glaubenslehre (Lehrsätze der Religionsphilosophie und deren Behandlung des Judentums) fehlt.
Der Hauptteil des Handbuchs »C. Lebensstationen – Werke – Entwürfe« (angesichts des Gliederungsprinzips ist dieser Teil natürlich der umfangreichste: Er umfasst die Seiten 59–425) stellt vor ein anderes Problem. Nach den schon oben aufgezählten Wirkungsstätten Schleiermachers gegliedert, bietet dieser Hauptteil nach dem Abschnitt »V. Berlin (1809–1834)« (189–410) einen weiteren und letzten Abschnitt: »VI. Predigten« (411–426). Warum erhalten die Predigten eine Sonderstellung im Aufbau des Handbuchs und in der Kontextualisierung der Tätigkeiten Schleiermachers, ob­wohl das Handbuch doch zu Recht betont, dass Schleiermacher an allen Hauptstationen seines beruflichen Lebens immer auch Prediger war und er gerade im Berlin seiner Reifezeit »seinen dogmatischen Prinzipien in den Predigten auf ganzer Linie treu« blieb (so Preul, 420)? Die Antwort ergibt sich, wenn man bemerkt, dass nicht nur die Predigten, sondern auch die Briefe Schleiermachers gesondert behandelt werden (im Abschnitt »Prolegomena. II« [6–20]). Man merkt an dieser Gliederung, dass das Schleiermacher Handbuch im Grunde ein ›Handbuch zum leichteren Gebrauch der Kritischen Gesamtausgabe‹ der Werke Schleiermachers ist und sich an deren Abteilungen und Gliederungsprinzipien orientiert. Darum ergeben sich auch inhaltliche Überschneidungen mit dessen Einleitungen (vgl. Andreas Arndt zur Dialektik, 257–266).
Doch natürlich beeinträchtigt diese Unwucht der Gliederung die Qualität der Einzelbeiträge nicht. Man ist daher schon ungerecht, wenn man einige Beiträge besonders hervorhebt. Ein Beispiel für einen umsichtigen, mit Informationen opulent ausgestatteten Beitrag, der ein weites Feld erschließt, stammt aus der Feder von Dirk Schmid (Schleiermacher als Universitätstheoretiker und Hochschullehrer [inklusive Übersicht über seine gesamte Vorlesungstätigkeit]) (212–226), ein Beispiel für bewussten Verzicht auf Vollständigkeit zugunsten einer zugespitzten, ebenso brillanten wie eigenwilligen Interpretation bietet Joachim Ringlebens Darstellung der Reden über die Religion (102–117). Auf einer aristotelisch verstandenen Mitte exzellenter Balance zwischen Überblickswissen und hilfreichen Deutungsangeboten interpretiert Folkart Wittekind das Gespräch über die Weihnachtsfeier (178–188).
Freilich fällt auf, dass dieses Handbuch ein Werk der deutschen Gelehrtenrepublik ist (im Blick auf den Großteil der Autoren könnte man sogar regional begrenzter sagen: ein Handbuch Göttinger Provenienz [vgl. dazu 477 f.]). Englischsprachige Literatur muss man, französische braucht man nicht suchen. Von Mitautorinnen und -autoren ganz zu schweigen. Meist bliebt es bei summarischen Aufzählungen, die ohne Proudfoot, Williams, Schweiker, Crossley, Stoltzfuss oder Sockness auskommen, wie man übrigens auch Jüngel, Winkler oder Pannenberg als Schleiermacherinterpreten nicht zu kennen scheint. Typisch für diese Form der Schulbildung ist, dass Manfred Frank nur als Herausgeber einer Hermeneutikausgabe genannt wird, das systematische Interesse seiner Schleiermacher-Interpretation allenfalls durch Kennzeichnungen wie ›luzide‹ oder ›richtig‹ charakterisiert wird, inhaltlich aber eine Art Schwarzes Loch bleibt. Ähnlich wird auch Hans-Georg Gadamer behandelt – gewiss kann man der Auffassung sein, der Autor habe Schleiermacher an zentralen Stellen missverstanden. Aber darf man sich die Auseinandersetzung argumentlos mit der Bemerkung ersparen, Gadamer habe vor allem durch seinen Schüler Kimmerle zur Schleiermacherforschung beigetragen?
Der an und für sich sympathische, aber auch etwas abstrakte Anspruch eines dezidiert historischen Umgangs mit den Quellen erweist sich mitunter als Vehikel der Vermittlung einseitiger systematischer Hintergrundüberzeugungen. Unentbehrlich für die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden, für Forschung und Lehre, ist dieses Handbuch gleichwohl.