Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2021

Spalte:

929–932

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Zimmermann, Ruben [Hg.]

Titel/Untertitel:

Faszination der Wunder Jesu und der Apostel. Die Debatte um die frühchristlichen Wundererzählungen geht weiter.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2020. XII, 267 S. = Biblisch-Theologische Studien, 184. Kart. EUR 45,00. ISBN 9783788734374.

Rezensent:

Bernd Kollmann

Dieser Sammelband basiert im Kern auf den Vorträgen eines Mainzer Symposions, das 2017 zum Abschluss des von Ruben Zimmermann u. a. herausgegebenen zweibändigen »Kompendiums der frühchristlichen Wundererzählungen« (Gütersloh 2013/2017) stattfand. Einige Beiträge beziehen direkt zum Wunderkompendium Stellung, andere äußern sich allgemeiner zu ausgewählten Aspekten der Wunderfrage.
Den Auftakt bilden zwei Abhandlungen zur Apostelgeschichte. Graham H. Twelftree wendet sich unter dem Titel »Miracle and Magic: Frontier Battles in the Acts of the Apostles« (1–28) jenen Passagen zu, in denen sich Lukas mit der paganen Magie auseinandersetzt (Apg 8,9–24; 13,4–12; 16,16–24 und 19,13–17). Sie seien an einer strategisch wichtigen Stelle der Missionsgeschichte platziert worden und verdeutlichten den Rezipienten der Apostelgeschichte, dass am Anfang wichtiger Missionsetappen häufig ein schwieriger, aber schließlich siegreicher Kampf mit subtilen Ausdrucksformen der Magie stand, der den Weg zum Missionserfolg ebnete. Craig S. Keener tritt in »Luke’s Acts, Miracles, and Historiography« (29–46) dafür ein, den Wundern der Apostelgeschichte als Zeugnissen lebendiger Erinnerung großes historisches Vertrauen zu schenken. Angesichts der enormen Zahl von Menschen, die in der Antike wie in der Gegenwart den Anspruch erhöben, göttliche Heilung oder andere übernatürliche Erlebnisse erfahren zu haben, bestehe kein Anlass, Wunderberichte grundsätzlich für erfunden zu halten oder sie einem längeren Prozess der mündlichen Überlieferung zuzuschreiben.
Es schließen sich vier Beiträge zu Fragen der Faktualität und Fiktion in Wundererzählungen an. Detlev Dormeyer zufolge er­zeugten die neutestamentlichen Wundergeschichten mit ihren faktualen Anteilen ein Bild des Wundertäters Jesus, das für die antike Alltagswelt eine plausible Realität besessen habe. Mit ihren fiktiven Inhalten, dass Jesus in seinen Wundern schon jetzt die eschatologische Welt ohne Leiden habe anbrechen lassen, seien sie hingegen einen einmaligen Weg gegangen (47–53). Christian Münch setzt Zimmermanns Definition von Wundergeschichten als faktualen Erzählungen mit fiktionalisierenden Erzählelementen, die sich bewusst an der Grenze von Realistik und Phantastik bewegen, zu einer Totenerweckung aus Cornelia Funkes Tintenwelt-Trilogie in Beziehung und plädiert für einen intensiven Dialog der Theologie mit der Literaturwissenschaft (55–65). Uwe Durst beschäftigt sich aus literaturwissenschaftlichem Blickwinkel damit, ob frühchristliche Wundererzählungen und wunderbare Subsysteme in der neuzeitlichen Literatur, in denen das wunderbare Element einer realistischen Basiserzählung gewissermaßen in einem Reservat eingesperrt und damit systemisch begrenzt werden, strukturell analog sind. Diese Frage wird von ihm verneint. Die Wunder Jesu und der Apostel ließen sich nicht als fiktionale Elemente in einem ansonsten faktualen Text kategorisieren, sondern in den frühchristlichen Wunderzählungen sei das Wunderbare handlungsrelevant (67–77). Jordash Kiffiak nimmt Zimmermanns Betrachtung der Wundergeschichten als faktualer mehrgliedriger Erzählungen zum Ausgangspunkt, um eine eigene Definition der literarischen Gattung Wundererzählung zu entwickeln, die sich eines detaillierteren diachronen Ansatzes bediene und stärker am jüdischen Vergleichsmaterial orientiert sei (79–116).
Danach richtet sich der Fokus auf die byzantinische Hagiographie. Der Beitrag von Susan E. Hylen (117–131) ist der Sammlung der »Wunder der heiligen Thekla« gewidmet, die im zweiten Band des Wunderkompendiums behandelt wird. Hylen stellt heraus, dass dieses Werk aus dem 5. Jh. unser Bild vom spätantiken Chris­tentum bereichert, indem es einerseits Auseinandersetzungen mit abweichenden innerchristlichen Strömungen und paganen Kulten um den rechten Glauben und andererseits den Einfluss von Frauen auf das religiöse wie kulturelle Leben widerspiegelt. Thomas Pratsch stellt unter der Überschrift »Wunder in Byzanz« (133–140) die Bedeutung des zweibändigen Wunderkompendiums als einer Art »Handbuch der frühchristlichen Mirakologie« für die Erforschung der Wundergeschichten in Heiligenviten aus byzantinischer Zeit heraus.
Zwei weitere Beiträge beleuchten das Wunderkompendium aus dem Blickwinkel theologischer Nachbardisziplinen des Neuen Testaments. Notger Slenczka bietet Anmerkungen zum Wunderkompendium und zur Wunderthematik aus systematisch-theologischer Perspektive (141–157). Dabei nimmt er Lessings Schrift »Über den Beweis des Geistes und der Kraft« und das »wunderlose« Jesusbuch von Joseph Ratzinger als Ausgangspunkt, um für einen applizierenden Umgang mit den Wundergeschichten einzutreten, der durch eine Reflexion der eigenen Wirklichkeitswahrnehmung vor dem Hintergrund der Pluriformität der Weltsichten erfolgt. Eine wichtige Aufgabe der Systematischen Theologie sei es, eine Phänomenologie der lebensweltlichen Erfahrung zu entwerfen, in der das Sprachfeld des Wunderbaren seine Kraft bewahrt, weil es allein fähig sei, den Erlebnisgehalt bestimmter Widerfahrnisse auf den Begriff zu bringen. Ulrich Kropa č würdigt in seinem bibeldidaktischen Kommentar zum Wunderkompendium (159–168) dessen Bedeutung für die Religionspädagogik, für die eine Rezeption der im Kompendium gelieferten neuen exegetischen Erkenntnisse unerlässlich sei, um sie dann in einem eigenen Arbeitsgang pädagogisch zu formatieren. Dabei hebt er hervor, dass das Wunderkompendium mit seiner Fokussierung auf die pluriforme Deutung und die Wirkungsgeschichte von Wundererzählungen von hohem Wert für eine rezeptionsästhetisch ausgerichtete Wunderdidaktik sei. Kritisch merkt er an, dass im Wunderkompendium intertextuelle literarische Bezüge eine nur untergeordnete Rolle spielten.
Den Auftakt zum Schlussteil markiert Peter Busch mit seinem Beitrag »Wunderhafter Samstagnachmittag« (169–177). Darin schlüpft er in die Rolle eines fiktiven Theologiestudenten, der den zweiten Band des Wunderkompendiums mit seinen Ausführungen zu den kanonischen und apokryphen Apostelwundern in die Hände nimmt. Aus der Perspektive dieses Modell-Lesers wird am Wunderkompendium neben seinem Materialreichtum und seinen neugierig machenden Überschriften auch der Verzicht auf in-terpretatorische Engführungen gewürdigt. Danach öffnet sich der Blick auf Zukunftsperspektiven der Wunderdebatte. Marco Frenschkowski nimmt in seinen Überlegungen zur »Zukunft der Wunder« (179–205) zunächst eine forschungsgeschichtliche Einordnung des Wunderkompendiums vor und hebt dabei die programmatische Einbeziehung auch der apokryphen Wundertraditionen als wichtigen Punkt hervor. In einem zweiten Schritt gibt er anregende Impulse für die künftige Wunderforschung. Dazu zählen für ihn die gezielte Suche nach dem kulturellen Milieu der Wunderberichte, eine Intensivierung des Vergleichs neutestamentlicher Wundersammlungen mit anderen antiken »Wunder-Clustern« und eine verstärkte Rückbesinnung der neutestamentlichen Wissenschaft auf die volkskundlich-ethnologische Erzählforschung. Zum Abschluss (207–243) bietet Ruben Zimmermann eine mit weiterführenden Erwägungen verbundene Replik auf die Einzelbeiträge und stellt die in der Natur der Sache liegende Offenheit der Wunderfrage heraus. Der Zauber der die Menschen zutiefst berührenden Wundererzählung bestehe gerade darin, dass sie sich nicht durchschauen lasse, womit sie immer vom Geheimnis umgeben sei und zum Weiterfragen einlade.
Unter dem Strich bietet der Sammelband einen bunten interdisziplinären Reigen von thematisch nur locker miteinander verbundenen Beiträgen zur Wunderthematik. Ob sie allesamt die Wunderforschung entscheidend vorantreiben, sei dahingestellt. Anregend sind sie aber allemal. Die Aufsatzsammlung dokumentiert anschaulich die ungebrochene Faszination der Wunderzählungen und gibt einen Vorgeschmack auf zukünftige Schwerpunkte der Wunderdebatte.