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Ausgabe:

Oktober/2021

Spalte:

922–924

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Rubel, Georg

Titel/Untertitel:

Paulus und Rom. Historische, rezeptionsgeschichtliche und archäologische Aspekte zum letzten Lebensabschnitt des Völkerapostels.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2014. XI, 253 S. = Neutestamentliche Abhandlungen. Neue Folge, 57. Geb. EUR 45,00. ISBN 9783402114407.

Rezensent:

Rainer Riesner

Es handelt sich um eine Habilitationsschrift, die im Wintersemester 2013/2014 von der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt angenommen wurde. Nach einem kurzen Forschungsüberblick (3–11) formuliert Georg Rubel als das Ziel seiner Arbeit: »Es fehlt bislang eine kohärente und ausführliche Darstellung, die sich ausschließlich dem Lebensende des Völkerapostels widmet und die Ereignisse in Jerusalem und Rom auf der Basis der wichtigsten literarischen Zeugnisse zu erhellen versucht und dabei auch den Blick über das Neue Testament hinaus auf die Paulusrezeption der Kirche in den beiden ersten Jahrhunderten n. Chr. richtet und aktuelle Ergebnisse der Archäologie miteinbezieht« (11).
Ein erstes Kapitel befasst sich mit den »Reiseplänen des Apostels im Römerbrief« (15–44). Hier wird mit einer ganzen Reihe von guten Beobachtungen herausgearbeitet, wie Paulus mit seinem Schreiben auf rhetorisch geschickte Weise versucht, die Christen der Reichshauptstadt als Unterstützer für seine geplante Spanien-Mission zu gewinnen. Dabei galt im Blick auf die vorausgehende Überbringung einer Kollekte der heidenchristlichen Gemeinden des Apostels an die Judenchristen im stets gefährlichen Jerusalem: »Der eindringliche Charakter von Röm 15,30–32 lässt vermuten, dass Paulus bereits eine Vorahnung hatte und sein zukünftiges Schicksal schmerzlich vor Augen sah« (44).
Das zweite und längste Kapitel ist der »Verhaftung und dem Prozess des Paulus nach Apg 21,18–26,32« gewidmet (45–101). Bei der Frage nach historischen Haftpunkten folgt der Vf. einer via media zwischen größerem Optimismus und radikaler Skepsis. Als his-torisch ist nach ihm festzuhalten: Paulus wurde Apostasie vom Judentum vorgeworfen und eine angebliche Tempelschändung durch das Einschleusen von Heiden zum Anlass für ein Vorgehen gegen ihn genommen. Das Eingreifen des in der Festung Antonia stationierten römischen Militärs hat Paulus vor der Lynchjustiz bewahrt. Der Apostel besaß tatsächlich die civitas Romana und konnte entsprechend der Rechtslage im frühen Prinzipat noch während des Verfahrens gegen ihn eine appellatio an den Kaiser einlegen, die zur Verbringung nach Rom führte. Allerdings wird die Art und Weise, wie diese Daten gewonnen werden, weder die ganz überzeugen, welche den zweiten Teil der Apostelgeschichte für den Bericht eines Paulus-Begleiters halten, noch jene, die hier eine reine Fiktion annehmen.
Für einen Vergleich der Apostelgeschichte mit der antiken Historiographie ist es vielleicht doch nicht ganz ausreichend, sich nur auf zwei Aufsätze von Knut Backhaus und einen von Jens Schröter zu stützen, die den Einsatz von fiktionalen Elementen sehr stark betonen. Hier wäre ein Gespräch mit anderen Beiträgen, etwa dem Sammelband »The Book of Acts in Its Ancient Literary Setting« (hgg. von B. W. Winter/A. D. Clarke, Grand Rapids/Carlisle 1993), wünschenswert gewesen. Gegen Jörg Frey wird eingewandt, dass die Alternative Fakt oder Fiktion »nicht haltbar« sei, »weil sich in der antiken Historiographie beide Elemente derart durchdringen, dass es gar nicht möglich ist, zwischen Fakten und Fiktionen zu unterscheiden« (47, Anm. 21). Wenig später heißt es nicht mehr ganz so skeptisch: »Eine absolut sichere Entscheidung für oder gegen Historizität kann in den seltensten Fällen getroffen werden, letztlich bleibt die historische Rückfrage bei den Texten der Apostelgeschichte stets ein spekulatives und hypothetisches Unterfangen« (49). Im Verlauf der Untersuchung wird dann aber das römische Bürgerrecht des Paulus »als historisch gesichert« (84) und seine Appellation »als historisches Faktum« bezeichnet (87), von dem man »ohne Zweifel« ausgehen könne (98). Das scheinen doch eher widersprüchliche Aussagen zu sein.
Im dritten Kapitel »Paulus in Rom« (102–120) wird die Haft des Paulus in Form der custodia militaris in einer gemieteten Wohnung als historisch beurteilt, auch habe der Autor der Apostelgeschichte gewusst, dass nach zwei Jahren eine Wendung im Verfahren eingetreten sei. Dessen Ende (wahrscheinlich eine Verurteilung) habe er aber bewusst verschwiegen. Der offene Schluss solle »positiv zum Ausdruck bringen, dass die Verkündigung des Evangeliums über den Tod des Apostels hinaus weitergeht und nunmehr in der Hand seiner Leser liegt. Damit sind textpragmatisch die Leser der Apostelgeschichte aufgefordert, wie Paulus mit allem Freimut und ungehindert die Basileia Gottes zu verkünden und die Sache Jesu zu bezeugen [Apg 28,31]« (119). Abgesehen davon, ob je ein antiker Leser den Schluss so verstanden hat, erheben sich auch hier gegen die Art der Unterscheidung von historischer Tradition und redaktioneller Fiktion methodische Bedenken. Der Vf. entscheidet sich gegen einen vorlukanischen schriftlichen Prozessbericht (H. Omerzu, Der Prozeß des Paulus. Eine exegetische und rechtshistorische Untersuchung der Apostelgeschichte [BZNW 115], Berlin/ New York 2002) oder bloße Einzelüberlieferungen, sondern rechnet mit »einem [mündlichen?] Grundgerüst, das die wichtigsten Stationen des Prozesses […] beinhaltete« (59). Um historische Elemente »herauszufiltern«, werden vor allem zwei Kriterien angewandt. Der Gebrauch von juristischen termini technici sei Lukas nicht zuzutrauen und deshalb ein Hinweis auf Tradition (84.86). Aber woher weiß man, dass der auctor ad Theophilum sich im Gegensatz zu seinem hypothetischen Vorgänger nicht rechtlich auskannte? Als ein weiteres Indiz für Tradition gelten hapax legomena. Weil der Ausdruck μίσθωμα »keine Parallelen im lukanischen Doppelwerk besitzt«, handele es sich »offensichtlich um eine Information, die Lukas der Tradition entnommen hat« (114). Aber da im Doppelwerk keine andere »Mietswohnung« erwähnt wird, kann man nicht wissen, welches Wort Lukas dafür gebraucht hätte.
Im vierten Kapitel geht es um das »Paulusbild in 2Tim 4,6–8« (121–141). Die Pastoralbriefe gelten dem Vf. als um 100 n. Chr. in Kleinasien entstandene Pseudepigraphen (122 f.). Sie enthielten besonders im testamentarischen 2. Timotheus-Brief ein idealisiertes Bild des Apostels, das sein Martyrium voraussetzt und »die paränetische Absicht« habe, »den Glauben der Christen zu bestärken und ihre Treue zu Christus zu bewahren, damit sie wie Paulus an jenem Tag den Kranz der Gerechtigkeit empfangen als Belohnung für ihre Liebe zum Erscheinen des Herrn« (140). Ein ähnlicher Befund ergibt sich nach dem Vf. im fünften Kapitel für das »Paulusbild in 1Clem 5,5–7« (142–164). Dieser Abschnitt enthalte ebenso wenig wie 2Tim 4,6–8 historisch auswertbare Details (etwa zu einer Spanien-Reise), außer dass es sich am Ende des 1. Jh.s »um die erste ausdrückliche Nachricht über den Tod des Apostels Paulus handelt«, wobei Clemens »das Martyrium des Apostels in idealtypischer Weise stilisiert« (164). Die Voraussetzung, dass eine rhetorische Stilisierung mit Hilfe des Agon-Motivs und von Wendungen der jüdischen Märtyrerliteratur konkretere historische Kenntnisse ausschließe, muss man aber nicht unbedingt teilen (R. Riesner, Apostelgeschichte, Pastoralbriefe, 1. Clemens-Brief und die Martyrien der Apostel in Rom, in: S. Heid [Hg.], Petrus und Paulus in Rom. Eine interdisziplinäre Debatte, Freiburg 2011, 153–179 [166–171]). Das sechste Kapitel behandelt das »Paulusbild in den Acta Pauli« (165–189), deren Martyriumsbericht in der zweiten Hälfte des 2. Jh.s den Tod des Apostels legendarisch ausmalt. Über die Ansetzung des Martyriums unter Kaiser Nero in Rom urteilt der Vf. durchaus nachvollziehbar: »Sowohl die Orts- als auch die Zeitangabe dürfte der geschichtlichen Wirklichkeit entsprechen, nicht zuletzt deshalb, weil es hierfür keine alternativen Überlieferungen gibt.« (189) Gegen Willy Rordorf (Lex orandi – lex credendi. Gesammelte Aufsätze, Freiburg/Schweiz 1993, 225–241.319–327) wird aber überzeugend nachgewiesen, dass die Acta darüber hinaus keine historischen Daten enthalten (181–184).
Hinsichtlich des 1. Clemens-Briefes und der Acta Pauli führt der Vf. auch ein Gespräch mit nicht-deutschsprachiger Literatur. Demgegenüber fällt auf, dass zum Römer-Brief und zur Apostelgeschichte kein einziger englischsprachiger Kommentar herangezogen wird. Ein Blick auf die Diskussion im angelsächsischen Bereich macht aber deutlich, dass die Positionen zu den Einleitungsfragen bei Apostelgeschichte und Pastoralbriefen vielfältiger sind, als man aufgrund der gegenwärtigen deutschsprachigen Kommentarliteratur den Eindruck gewinnen könnte. Als einziger englischsprachiger Kommentar begegnet in der Literaturliste (239) der von Luke T. Johnson zu den Pastoralbriefen (The first and second letters to Timothy [AncB 35A], New York 2001). Dieses Werk, in dem auf rund 100 Seiten für die Abfassung durch Paulus argumentiert wird, findet aber im Text selbst keine Erwähnung. Es trifft auch nicht zu, dass für Jens Herzer der 2. Timotheus-Brief eine »pseudepigraphische Fälschung« darstelle (123, Anm. 13). Vielmehr hält Herzer eine Abfassung in der Lebenszeit des Paulus zwischen 62 und 64 für wahrscheinlich (WiBiLex, Pastoralbriefe, 10).
Man muss es begrüßen, dass der Vf. sich bei seiner Frage nach dem Ende des Apostels nicht auf die literarischen Quellen beschränkt, sondern im siebten und letzten Kapitel auch das »Paulusgrab in S. Paolo fuori le mura« als archäologische Evidenz mit heranzieht (190–213). Dabei nennt er gute Gründe, warum die Tradition über die Gräber von Petrus auf dem Vatikan und von Paulus an der Via Ostiense weit in das 2. Jh. zurückreicht (191–195). Der Vf. schließt sich dem Urteil des Ausgräbers Giorgio Filippi an, dass schon um 390 beim Bau der mächtigen Basilika, die einen kleinen konstantinischen Bau ersetzt hatte, ein Marmorsarkophag mit den Gebeinen des Apostels als Altar diente (207–210). Es stellt ein Verdienst der vorliegenden Arbeit dar, dass sie die archäologischen Untersuchungen beim Paulus-Grab, die in sehr verstreuten und meist auf Italienisch verfassten Publikationen veröffentlicht sind, zusammengefasst und so einem weiteren Kreis von Exegeten zugänglich gemacht hat.