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Ausgabe:

September/2021

Spalte:

872–874

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Weilert, A. Katarina, u. Philipp W. Hildmann [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Religion in der Schule. Zwischen individuellem Freiheitsrecht und staatlicher Neutralitätsverpflichtung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. XIV, 270 S. = Religion und Aufklärung, 28. Kart. EUR 64,00. ISBN 9783161558795.

Rezensent:

Dorothee Schlenke

Dieser von der Juristin A. Katarina Weilert (Forschungsstätte Evangelischer Studiengemeinschaft e. V.) und dem Literaturwissenschaftler Philipp W. Hildmann (Hans-Seidel-Stiftung) herausgegebene Band versammelt die aus einem von FEST und HSS verantworteten interdisziplinären Fachgespräch in Heidelberg 2016 hervorgegangenen und ergänzten Aufsätze. Die behandelte Thematik ist von großer aktueller Relevanz, denn die religionspoli-tischen Ordnungsstrukturen der Bundesrepublik inklusive ihrer religionskulturellen Hintergrundüberzeugungen stehen aufgrund einer Vielzahl neuer, im Einzelnen durchaus strittiger religionsbezogener Problemstellungen und Abwägungsfragen gegenwärtig verstärkt in der Diskussion. Im Kern dieser breiten gesellschaftlich-politischen Debatte und ihres Niederschlags in kontinuierlicher Rechtsprechung auf höchster Ebene steht die Frage der Vermittlung des verfassungsrechtlichen Reflexionsbegriffes religiös-weltanschaulicher Neutralität des Staates mit individuellen Freiheits- und Gleichheitsrechten, wie sie exemplarisch im schulischen Kontext aufbricht. Denn: »Nirgendwo kommt der Staat der Persönlichkeit des Einzelnen so nahe wie in der Schule.« (1)
Die Präsenz von Religion in der Schule ist folglich durch ein »multipolares Grundrechtsverhältnis« (2) gekennzeichnet, in welchem die Religions- und Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG) der Schüler und Lehrer, das auch religiös-weltanschaulich bezogene Erziehungsrecht der Eltern (Art. 6 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 2 GG) und der Erziehungsauftrag des Staates (nach Art. 7 Abs. 1 GG) im Horizont seiner Neutralitätspflicht ggf. konfligieren. Dementsprechend ist der mit einer prägnanten Einleitung versehene Band in vier Kapitel unterteilt: I. »Religion, religiöses Gewissen und Identität«, II. »Neutralitätspflicht des Staates an Schulen im Konflikt mit dem schulischen Auftrag zur Werteerziehung«, III. »Staatliche Er­ ziehung im Konflikt mit dem religiösen Erziehungsrecht der Eltern« und IV. »Religionsunterricht als Bildungsbeitrag im Rahmen des schulischen Erziehungsauftrags«.
In ihren grundrechtsdogmatischen Ausführungen zu Beginn des ersten Kapitels profiliert A. Katarina Weilert die Gewissensfreiheit als ein von der Religionsfreiheit unterschiedenes, eigenstän-diges Grundrecht mit möglichen Überschneidungen im Falle der religiös motivierten Gewissensentscheidung (vgl. Bekleidungsfragen, Befreiungsansprüche im Blick auf Sexualkundeunterricht, koedukativen Sportunterricht, Klassenfahrten etc.). Sie spricht sich grundsätzlich für einen am Einzelfall vorzunehmenden »schonenden Ausgleich« (33) zwischen der Gewissensfreiheit der Schüler und Schülerinnen bzw. ihrer Eltern und dem auf Persönlichkeitsbildung wie gesellschaftliche Integration ausgerichteten, in seinem Umfang durchaus strittig beurteilten Erziehungsauftrag des Staat es aus unter Vorrang des Kindeswohls und der authentischen Gewissensentscheidung. Vorausgesetzt ist dafür der in philoso-phischer wie theologischer Tradition abgebildete, konstitutive Zusammenhang von Gewissen(sbildung) und Identität (Hendrik Stössel).
Für die im zweiten, umfangreichsten Kapitel des Bandes behandelten Konfliktlinien zwischen staatlicher Neutralitätspflicht und schulischem Auftrag zur Werteerziehung konturiert Jochen Rozek in rechtshistorischer Perspektive das Schulregime des GG der Sache nach als grundrechtlich stets zu vermittelnden »Kompromiss« (65). Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates könne sich daher auch in der Schule nur in einer offenen, religiös-weltanschauliche Pluralität und Wertauseinandersetzung fördernden Weise realisieren, exemplarisch deutlich am bekenntnisgebundenen Religionsunterricht als »Bewährungsprobe staatlicher Neutralität« (71). Auch Heinrich de Wall befürwortet in seiner kritischen Analyse der gesellschaftlichen Debatte um das Kopftuch bei Lehrerinnen und der entsprechenden Verfassungsgerichtsurteile von 2003 und 2015 die »deutlich normative Stärkung der offenen Neutralität des Grundgesetzes« (151) in der zweiten Kopftuchentscheidung. Dass auch unter dem Neutralitätsparadigma strikter Laizität religiöse Wertkonflikte zunehmend in die öffentlichen Schulen getragen werden, legen Jean-Marc Meyer und Johannes Matzko am Beispiel Frankreichs eindrücklich dar. Wie Wolf-Thorsten Saalfrank aus erziehungswissenschaftlicher Sicht herausarbeitet, ergeben sich Wertkonflikte unweigerlich aus den politisch-rechtlichen Vorgaben des Lehrerhandelns, seinem didaktischen Vollzug (Stoffauswahl, Kompetenzorientierung) wie aus der persönlichen Werthaltung der Lehrperson. Im Interesse der Wertorientierung von Persönlichkeitsbildung und gesellschaftlicher Kohärenz befürworten daher Sabine und Reiner Anselm aus evangelisch-theologischer und pädagogischer Perspektive nachdrücklich eine schulische »Werteerziehung 2.0« (132) im Sinne der Vermittlung zivilreligiöser Grundwerte im Rahmen eines »Religionsunterrichts für alle« (137).
Im Konfliktfeld zwischen staatlichem Erziehungsauftrag und elterlichem Erziehungsgrundrecht (3. Kapitel) plädiert Stefan Huster entgegen der mit problematischen Abwägungsentscheidungen behafteten gängigen Gleichordnung beider Erziehungsaufträge für ein Abschichtungsmodell der Vorordnung des be­gründungsneutral zu fassenden staatlichen Erziehungsauftrages. Demgegenüber verweist Matthias Jestaedt kritisch auf die dabei vorgenommene »Neutralisierung« (172) elterlicher Grundrechte wie auf die weiter bestehende Unklarheit der Maßstäbe für Abwägungsfragen und präferiert im Ergebnis das auf den Einzelfall bezogene Abwägungs- bzw. Konkordanzmodell. Ebenfalls mit Blick auf die Grundrechtspositionen betroffener Eltern und Kinder fordert Guy Beaucamp wissenschaftlich begleitete Homeschooling-Versuche, um belastbare Daten einer künftigen Zulassung unter staatlicher Aufsicht zu gewinnen.
Dass der Religionsunterricht (4. Kapitel) eine exemplarische Konkretion religionsoffener, plurale Positionalität fördernder Neutralität des Staates darstellt, veranschaulicht Uwe Kai Jacobs aus kirchenrechtlicher Perspektive am Beispiel Baden-Württembergs unter weiterem Verweis auf religiöse Dimensionen der Schulkultur (Gottesdienste, Schulseelsorge) wie auf die Vermittlung christlich geprägter Bildungs- und Kulturwerte (christliche Gemeinschaftsschule). Diesen allgemeinen »Nutzen religiöser Bildung am Handlungsort Schule« (224) sieht der katholische Religionspädagoge Hans Mendl konkret in ihrer kulturhermeneutischen, lebensbewältigenden und kritisch humanisierenden Funktion sowie in einer religionszivilisierenden Wirkung. An diese letzte Dimension schließt der islamische Theologe und Religionspädagoge Tarek Badawia an mit seiner Forderung nach einer insbesondere durch interreligiöse Bildung zu gewinnenden »pluralitätsfähigen Sicht des Islam auf den eigenen Wahrheitsanspruch« (245) im zukunftsorientierten »Spannungsverhältnis von Offenheit und Originalität« (250).
In der disziplinären Vielfalt des Bandes liegt sachlich berechtigt ein gewisser Schwerpunkt auf der juristischen Sicht; neben Autoren-, Sach- und Personenregister ist daher ein erhellendes »Entscheidungsverzeichnis« entsprechender Urteile von Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgericht beigefügt. Dass eine philosophisch-ethische bzw. säkulare Perspektive fehlt, ist bedauerlich, stellt doch der Dialog mit säkularen Positionen, schulisch zu realisieren in kooperativen Arbeitsformen von Religions- und Ethikunterricht, in der gegenwärtigen Debatte eine wichtige Dimension der Verständigung über grundlegende Wertorientierungen unseres Gemeinwesens dar. Der Gewinn dieses anregenden Bandes liegt daher nicht zuletzt in der Sensibilisierung für die Komplexität künftiger Bildungsaufgaben, nämlich – wie im Vorwort einprägsam formuliert – für die Herausforderung, die »Schule als Raum möglicher individueller Bindungen zu gestalten und gleichzeitig Elemente des Verbindenden zu identifizieren« (V).