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Ausgabe:

September/2021

Spalte:

870–872

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Schambeck, Mirjam, Simojoki, Henrik, u. Athanasios Stogiannidis [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Auf dem Weg zu einer ökumenischen Religionsdidaktik. Grundlegungen im europäischen Kontext.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2019. 336 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 9783451385032.

Rezensent:

Christoph Wiesinger

Der vorliegende Sammelband setzt den Weg zu einer ökumenischen Religionsdidaktik fort. Nach einer Hochphase in den 1980er Jahren und zwischenzeitlichem Abebben gewinnt die Debatte aktuell wieder an Fahrt. Den Band verantworten ein evangelischer, ein orthodoxer Herausgeber und eine katholische Herausgeberin. Grob teilt sich das Werk in vier große Themenbereiche: Perspektiven kontextualisierter Majoritäts- und Minoritätsbedingungen, theologische Fundierungen, die differenziert akzentuiert aufeinander bezogen werden, religionsdidaktische Konkretionen und schließlich Grundsatzfragen und erweiternde Perspektiven.
Im ersten Teil werden die Identitäts- und Machtmechanismen innerhalb religiöser Mehr- und Minderheitsbedingungen thematisiert. Da Schülerinnen und Schülern ökumenische Differenzen immer weniger plausibel erscheinen, ist hier Diskussionsbedarf vorhanden. Wie drastisch historisch gewachsene Verschiebungen sein können, wird am Beispiel Wien deutlich, wo nur noch 33 % der Bevölkerung der katholischen Konfession angehören und es so zu Minderheitssituationen an öffentlichen Schulen komme. Dann verstärke sich die Bedeutung eines Wir-Gefühls, so Andrea Lehner-Hartmann, und geht mitunter mit Abgrenzungstendenzen einher. Die Autorin mahnt, dass Religionsdidaktik, anstatt einer identi-tären Selbstbestätigung, vielmehr ein Heimatgefühl mit einem ambiguitätstoleranten Identitätsbewusstsein entwickeln müsse. Dass eine Minderheitensituation schwierig sein kann, zeigt eindrücklich Marina Kiroudi. Orthodoxe Lehrkräfte sind in Deutschland schulisch kaum integriert, Unterricht wird in unpassende Räume an unpassende Zeiten gelegt. Hier wird dringender Besserungsbedarf deutlich. Die Orientierungsfunktion des Religionsunterrichts in einer pluralistischen Gesellschaft hebt Joachim Willems hervor. Mit Charles Taylor nennt er drei Aspekte von Säkularisierung: die Funktionalisierung der Gesellschaft in Teilbereiche, die Abwendung von Kirche und Glaube und schließlich die Konstitution der Gesellschaft, in der Glaube zur Option wird. Genau darin werde Religionsunterricht wichtig. Er solle als Ausdruck einer freiheitlichen Gesellschaft verstanden werden, in dem Partizipations- und Distanzierungsmöglichkeiten eröffnet und Subsysteme differenziert aufeinander bezogen betrachtet werden können. Der fröhliche Wechsel zwischen Perspektivenübernahmen diene der pluralen Gesellschaft insgesamt.
Den zweiten, theologischen Teil eröffnet Mirjam Schambeck, in­dem sie eine ökumenische Didaktik vom Gabendiskurs her bedenkt. Konfessionen stellen unterschiedliche Gaben dar, die als eine versöhnte und komplementär aufeinander bezogene gottgewirkte Einheit erfasst werden können. Die Grammatik ökumenischen Lernens kehrt damit sowohl vom Ziel der Uniformierung als auch der Orientierung an reiner Differenz ab und sucht stattdessen horizonterweiternde Würdigung anderer Konfessionen. Für eine stärkere Integration des ökumenischen Gedankens, sowohl bei der Ausbildung von Religionslehrenden als auch im schulischen Unterricht, plädiert Athanasios Vletsis. In Griechenland findet akademische Ausbildung vor einem ökumenischen Horizont statt. Im Anderen erkennen, was bei einem selbst (noch) fehlt, lautet die Devise. Ausgehend von konsensfähigen Texten könnte so die wechselseitige Bereicherung durch gemeinsames Gebet, ökumenische Gottesdienste oder diakonische Projekte gefördert werden und so eine ökumenische Perspektive für das vereinigte Haus Europas sein. Etwas aus dem Duktus des Buches gefallen wirkt hingegen eine Response von Katrin Bederna. Plausibel fordert sie zwar die Schüler- und Schülerinnenorientierung ein, um diese vor funktioneller Inzwecknahme der Ökumene zu schützen, zeigt aber dann ein sehr selbstbestimmtes Verhältnis zu anderen Konfessionen. Klar benennt sie die Grundprinzipien katholischer Didaktik und die darin noch zu entdeckenden Potentiale einer ökumenischen Didaktik. Von der Wahrnehmung des Anderen als Anderen ist hier wenig, vom Interesse der Bewahrung des Eigenen viel zu spüren. Die theologische Fundierung aus protestantischer Perspektive leistet Michael Meyer-Blanck. Er beschreibt die »protestantische Vernunft« im Dienste der Begrenzung der Vernunft, ordnet das sola scriptura als Prinzip, das zu einer Wahrheit führt, die uns vorausliegt und neu entdeckt werden müsse, ein, unterscheidet Gesetz und Evangelium zum Zwecke der Selbstprüfung, die scheitern müsse, um durch diese höchste Kompetenz zur Einsicht zu gelangen, an­ders werden zu können, »weil wir nicht erst anders werden müssen« (174). Wir lernen, das Menschenmögliche vom Menschenunmög-lichen zu unterscheiden. »Gerechtigkeit vor Gott kann nur im Los lassen erfahren werden.« (176) Pointiert zeigt Meyer-Blanck, dass pro-testantische Bildung, indem sie Religionskritik fördert, in diesem Sinne nicht religionsproduktiv ist. So bringt der Beitrag gleichermaßen eine Faszination für die orthodoxe Theosis zur Sprache wie für die Repräsentation der Christusrealität in der katholischen Praxis.
Im dritten Teil kommen relevante Dimensionen für den Religionsunterricht zur Sprache. Es gelte, die globale von der ekklesiologischen Ausrichtung der Ökumene zu unterscheiden, um globale, ökumenische, interkulturelle, interkonfessionelle, interreligiöse und sozialethische Dimensionen differenzieren zu können. Durch die Bemühungen um eine ökumenische Didaktik, so Sabine Pemsel-Maier, sind bereits Forderungen wie Eigenverantwortung, Dialogbereitschaft, Konfliktfähigkeit, Offenheit für andere, Sensibilität und Toleranz als anerkannte Eckpfeiler entwickelt und bieten ein Integrationsmoment unterschiedlicher Welterfahrung. Eine ökumenische Didaktik brauche die Perspektivenwechsel und -verschränkungen. Jan Woppowa plädiert für ein komplementäres Lernen. Ziel müsse die Subjektwerdung und die religiöse Bildung sein. Diese ökumenisch zu organisieren, entspreche nicht nur den demographischen Entwicklungen, sondern wäre gerade vor der Situation einer »kognitiven Minderheit« (231) aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive geboten. Ein ökumenisches Lernen, das auf Differenz und Identität setzt, würde lediglich zu einer Reak-tivierung von Stereotypen führen.
Im letzten Abschnitt weiten sich die Perspektiven. Frank Lütze fragt, wie sich Ökumene vor dem Hintergrund einer weitreichenden Säkularisierung darstellt. Er zeigt, dass es in atheistisch geprägten Gebieten Deutschlands neue Perspektiven braucht. Er plädiert für eine Überwindung der Believe-it-or-leave-it-Logik. Re­ligion und ihr Unterricht unterstützten die »Möglichkeit der Versprachlichung, der Reflexion und der angemessenen Gestaltung einer nichtreligiösen Lebensorientierung« (265). Religion müsse erst einmal ernstgenommen werden, sich anschließend erschließen und bis zu einem gewissen Grad verstanden werden. Darüber hinaus solle der Raum für Ritus, Gebet und Doxologie offengehalten werden. Begegnungen führen über Stereotype hinaus. Ganz ähnlich argumentiert Ulrich Kropač und prophezeit, dass zwar nicht der Religionsunterricht in Frage gestellt werde, jedoch die Art nach konfessioneller Unterschiedenheit. So müsse sich dringend mehr mit der prägenden Bewegung der Säkularisierung auseinandergesetzt werden. Religionsunterricht ist so zu konzipieren, dass er sich gleichermaßen an nichtreligiöse Lernende richte, da die großen Fragen für diese auch relevant seien.
Die Beiträge sind geprägt von einer wechselseitigen, wertschätzenden Wahrnehmung. Die durchgehend thematisierten Machtfragen legen Bezüge zum Umgang mit dem Fremden nahe. Es fällt auf, dass Konsens zu bestehen scheint, vom Eigenen auszugehen, um Anderes kennenzulernen. Es sei eine erkenntnistheoretische Prämisse (116) und wirke horizonterweiternd (117). Mir scheinen hier klassische Denktraditionen aufgerufen: erst das Eigene, dann Begegnung mit dem Fremden und dann entweder Horizontverschmelzung oder Rückkehr ins Eigene (131). Diese Prämisse ist jedoch keinesfalls zwingend. E. Lévinas oder B. Waldenfels haben gute Gründe angeführt, warum ein Ausgang vom Fremden nicht nur sinnvoll, sondern erkenntnistheoretisch notwendig erscheint. Ein damit zusammenhängender Topos wäre die Verbindung von Begegnung und Symmetrie. Die immer wieder beschworene Be­gegnung auf Augenhöhe könnte, anstatt Asymmetrien unkenntlich zu machen, vielmehr vom Anderen ausgehend diese bearbeiten. Die Beiträge machen Lust, sich weiter mit ihren Themen zu beschäftigen.
Der Band leistet damit Wichtiges: Er bietet einen ausgezeichneten Überblick über die aktuelle Debatte, bringt orthodoxe, protes-tantische und römisch-katholische Stimmen zusammen und schafft einen gemeinsamen Diskursrahmen. Der Band ist ein substantieller Beitrag auf dem zukunftsweisenden Weg zu einer ökumenischen Religionsdidaktik und dringend zur Lektüre empfohlen.