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Ausgabe:

September/2021

Spalte:

845–847

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Schunka, Alexander

Titel/Untertitel:

Ein neuer Blick nach Westen. Deutsche Protestanten und Großbritannien (1688–1740).

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2019. 570 S. m. 4 Abb. u. 3 Tab. = Jabloniana. Quellen und Forschungen zur europäischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, 10. Geb. EUR 98,00. ISBN 9783447112604.

Rezensent:

Martin Ohst

Alexander Schunkas exzellente geschichtswissenschaftliche Habilitationsschrift erschließt ein bislang wenig bekanntes Kapitel der frühneuzeitlichen Mentalitäts-, Kultur- und Politikgeschichte, nämlich einen spezifisch kirchlichen Sektor der deutsch-britischen Beziehungen in den beiden Menschenaltern zwischen der »Glorreichen Revolution« und der Thronbesteigung Friedrichs des Großen.
Der Westfälische Friede hatte im Ringen um die Hegemonie auf dem europäischen Kontinent und in der Neuen Welt lediglich eine Atempause markiert, nach der in wechselnden Konfigurationen die Kämpfe fortgingen. Im Reich, erst recht aber an seinen Grenzen und außerhalb ihrer, hatten diese Konflikte auch religions- und konfessionspolitische Dimensionen: Je auf ihre Weise beförderten die katholischen Mächte, insbesondere das nach der Vorherrschaft auf dem Kontinent strebende Frankreich Ludwigs XIV., dort, wo es politisch opportun war, das papstkirchliche Bestreben, im Vernichtungskampf gegen die protestantischen Häresien die kirchliche Einheit wiederherzustellen. Konversionen wie die des sächsischen Kurfürsten sowie vertraglich sanktionierte Regelungen, die den religionsrechtlichen Bestimmungen des Westfälischen Friedens Hohn sprachen (Friede von Rijswijk 1697), gaben Anlass zu massiven Befürchtungen – insbesondere bei reformierten Protestanten, die vielfach als Minderheiten lebten und auch deshalb schon seit Langem durch ein dichtes Netz internationaler Kommunikation und Hilfeleistung verbunden waren. Auch die Reformierten im durchgängig lutherisch geprägten Brandenburg-Preußen waren eine kleine Minderheit, allerdings als Konfession des Herrscherhauses und der von ihm herangezogenen Eliten eine erheblich überprivilegierte, die unverhohlen nach kirchlich-kultureller Prädominanz strebte. Theologisch standen sie in der von Melan-chthon geprägten Tradition des »Deutschreformiertentums«: We­der lehrten sie mit den Beschlüssen der Synode von Dordrecht die konsequente, supralapsarische Prädestination, noch war ihnen die presbyterial-synodale Kirchenverfassung ein Herzensanliegen. Kirchen- und theologiepolitisch folgten sie den hergebrachten reformierten Denk- und Handlungsschemata, die darauf abzielten, die angeblich noch im Papsttum steckengebliebenen Lutheraner zur Vollendung der reformatorischen Erneuerung zu führen: Der Zielvorstellung dauerhafter Konvivenz und Kooperation auf der Basis wechselseitiger Anerkennung war diese »Irenik« ebenso fern wie das papstkirchliche Konzept der »Reunion«, also das mit diesem eng verwandte Vorgängermodell des modernen römischen Ökumenismus. Aus der Perspektive dieser spezifisch brandenburgisch-preußischen reformierten Irenik war die seit 1688 rechtlich neu abgesicherte anglikanische Kirche höchst attraktiv: Die in ihrer Lehre sich selbst trotz der in ihr wirksamen »arminianischen« Ablehnung der konsequenten Prädestinationslehre entschieden als reformiert definierende Kirche wurde von der Staatsgewalt massiv privilegiert und an der kurzen Leine geführt. Aus dem Blickwinkel eines reformierten Denkens, das weniger von den Ordnungskon zeptionen Calvins als von der späthumanistischen normativen Hochschätzung der spätantiken Reichskirche geprägt war, hatte auch deren bischöfliche Verfassung Modellcharakter – einmal in sich selbst, dann aber auch hinsichtlich der Außenwirkung: Im Dialog mit der römischen Kirche sei allein eine episkopal verfasste Kirche wirklich satisfaktionsfähig, ja, sie könne ihr gegenüber sogar darauf pochen, sie habe das wahre Erbe des altkirchlichen Episkopats treuer bewahrt, weil sie es nicht dem römisch-papalis-tischen Zentralismus und seinen hybriden Ansprüchen auf welt-liche Oberherrschaft preisgegeben habe. So schien England den Ansatzpunkt zu bieten für eine gesamteuropäische antipapistische Einheitsfront, welche den bedrohten Protestantismus durch ein reformiertes Einheitsmodell stabilisieren könnte und seiner drohenden politischen Unterdrückung würde Einhalt gebieten können.
Massive Vorbehalte gegen diese Art von Kirchenpolitik hatten die orthodoxen Lutheraner, für die die Wahrheit nicht als politische Verhandlungsmasse zur Disposition stand, aber nicht nur sie: S. zeigt, dass mit ihren Vorbehalten auch die Protagonisten des (hallischen) Pietismus übereinkamen, deren ins Große ausgreifende Reich-Gottes-Arbeit dezidiert nicht auf die Errichtung und Weiterentwicklung kirchlich-hierarchischer Ordnungen, sondern auf die Bekehrung und Wiedergeburt von Individuen abzielte. Es waren also Angehörige der reformierten Elite, die von Brandenburg-Preußen aus kommunikative Fäden auf die britische Hauptinsel an­spannen – auf der gemeinsamen Grundlage eines Reformiertentums, aus dessen Perspektive die konsequente Orientierung an Calvins Leitlinien der Gemeinde- und Kirchenverfassung, wie sie die englischen und zumal die schottischen Presbyterianer verfochten, lediglich eine Sekten-Marotte darstellte. Das Interesse, an das die Kontinentaleuropäer dort anknüpfen konnten, war noch einmal spezifisch anders motiviert. Die Verantwortungsträger in Kirche und Staat hatten weder das Bedürfnis noch die Absicht, von den kontinentaleuropäischen Glaubensbrüdern etwas zu lernen oder zu übernehmen, sondern sie quittierten deren Avancen als willkommene Unterstützung in ihrer eigenen Arbeit an der Integration von Dissentern in die staatskirchlichen Strukturen, denn die Wertschätzung, die der Bischofskirche seitens der außerbritischen Reformierten entgegengebracht wurde, konnte argumentativ zur Entkräftung von deren Vorbehalten auf der Insel selbst wie in den kontinentalen Auslandsgemeinden dienen. Darüber hinaus ergaben sich praktische Kooperationen bei der Hilfe für reformierte Glaubensflüchtlinge aus Frankreich und aus der Pfalz. Hier kam wieder die bewährte grenzüberschreitende Solidarität der Refor mierten Internationale zum Tragen. Erstaunlich ist das hierbei zutage tretende eklatante ökonomische Gefälle zwischen der Insel und dem Kontinent: Für brandenburgisch-preußische Hilfsmaßnahmen wurden in beträchtlichem Maße englische Finanzhilfen erbeten und gewährt, die durch Spenden und Kollekten aufgebracht wurden. Auch in der Mission stellte die britische Seite das Geld und die Infrastruktur – aus dem preußischen Halle kamen ausgebildete Missionare, deren im Druck verbreitete Berichte dann wiederum die Reputation der Franckeschen Anstalten in Deutschland stärkten. – Das sind in wenigen groben Zügen die spezifisch kirchengeschichtlichen Haupterträge dieser voluminösen Studie. Wer wirklich den außergewöhnlichen Wert dieses Buches ermessen will, der darf es allerdings nicht beim Durchblättern und bei der Lektüre der mustergültig präzisen Zusammenfassung (481–487) belassen, sondern er muss es Seite für Seite durchlesen – möglichst mitsamt den umfänglichen Fußnoten, in denen die opulenten Resultate umfänglicher Quellenstudien (s. das Verzeichnis, 490–511) präsentiert werden. Die Schauplätze, auf denen eine Riesenzahl von Personen persönlich, brieflich oder in Druckschriften mit-, gegen- und nebeneinander agiert, reichen von Polen bis nach Südfrankreich und London, von Kopenhagen bis ins indische Malabar. Gekrönte Häupter und höchste kirchliche Würdenträger betreten die Szene ebenso wie Schüler und Studenten, Gelehrte, Heerführer und Staatsmänner – aber auch Desperados und Glücksritter, die sich von den Wellen einer ihre Publikumswirksamkeit sehr genau kal-kulierenden reformierten Solidarität zu neuen, aussichtsreicheren Ufern tragen ließen.
Die Fülle der Stoffe hat S. gebändigt, indem er sie zu fünf Wimmelbildern geformt hat: »Bedingungen protestantischer Kommunikation in Mitteleuropa und Großbritannien« (29–132), »Irenische Projekte zwischen deutschen und britischen Protestanten« (133–251), »Konfessionspolitik im internationalen Protestantismus« (252–328), »Mobilität und Austausch zwischen Großbritannien und dem protestantischen Deutschland« (329–440) und »Über Europa hinaus: die protestantische Mission und die Grenzen des internationalen Protestantismus« (440–480). Diese Blöcke sind nicht nur durch thematische Leitmotive verbunden, sondern auch durch eine Gruppe von Personen, die in den unterschiedlichen Kontexten immer wieder auftauchen. Die wichtigste unter ihnen ist Daniel Ernst Jablonski (1660–1741). Aus einer mährischen Familie stammend, in Polen aufgewachsen und auch in England akademisch gebildet, verkörperte er reformierte Internationalität und Weltläufigkeit. Er war in erstaunlich vielen Disziplinen und auf ganz unterschiedlichen Gebieten produktiv tätig, und als Hofprediger Friedrichs III./I. sowie Friedrich Wilhelms I. war er von schwerlich zu überschätzendem Einfluss in der brandenburg-preußischen Politik und Kirchenpolitik. Ob man es will oder nicht: Beim Lesen kommt einem immer wieder dessen auf ähnlich vielen Feldern aktiver Nachfahre Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher in den Sinn, dessen Unionskonzeption die reformierte Irenik zugleich vollendete und überwand, indem sie ihr den absorptiven Zahn zog. Aber nicht nur der wichtigste Theoretiker der Preußischen Union drängt sich beim Lesen der Erinnerung auf, sondern auch dessen Landesherr Friedrich Wilhelm III.
Wer sich forthin mit dessen massiv liturgielastigen Agenden-Entwürfen und seinen Versuchen, in der unter seiner Ägide entstehenden Preußischen Landeskirche das Bischofsamt zu etablieren, beschäftigen will, muss unbedingt S.s Ausführungen zu Liturgie und Bischofsamt in der kirchlichen Kommunikation zwischen England und Brandenburg-Preußen zur Kenntnis nehmen (183–251).