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Ausgabe:

September/2021

Spalte:

840–842

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Albrecht-Birkner, Veronika

Titel/Untertitel:

Hallesche Theologen in derzweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Traditionen – Rezeptionen – Interaktionen. 2 Bde.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2019. 794 S. = Hallesche Forschungen, 54. Kart. EUR 129,00. ISBN 9783447112536.

Rezensent:

Walter Sparn

Dieses Ergebnis 15-jähriger, in Einzelpublikationen schon sichtbarer Forschungsarbeit von Veronika Albrecht-Birkner wurde 2018 in Leipzig als Habilitationsschrift angenommen. Strikt kirchenhistorisch rekonstruiert sie Agieren und Interagieren der Halleschen Theologen 1750–1794 (Doppeljubiläum) im Spannungsfeld Fran­ckesche Anstalten, Theologische Fakultät mit Theologischem Se­minar, Universität und Berliner Hof. Die Einleitung (1–10) und eine Historiographische Reflexion (714–724) spitzen das im Ziel zu, historische Forschung zu befreien aus der Präokkupation durch »Masternarrative« und teleologisch benutzbare »entitäre« Begriffe wie »Pietismus« und »Aufklärung« (und aus der Konkurrenz von Pietismus- und Aufklärungsforschung). Im Kontrast zur »ahistorischen« Isolierung »großer« Denksysteme eruiert die Vfn. aus ungewöhnlich vielen gedruckten und archivalischen Quellen die Konstellationen, in denen die Halleschen Theologen sich bewegten und bewegt wurden. Solche Aktionsräume bildeten auch die Beziehungen zu auswärtigen Fakultäten, seit 1750 auch zum Oberkonsistorium in Berlin und zum anonymen Lesepublikum, für das die Hallenser Theologen auch populartheologisch auftraten.
Kapitel 2 »Institutionelle Strukturen« (11–94) notiert Namen, Amtsdauer und Gehälter aller Professoren der Fakultät und der (Kon-)Direktoren der Franckeschen Anstalten seit J. J. Breithaupt (1691) bzw. A. H. Francke (1698). Neben Finanzfragen und Berufungsmodalitäten sind Biographien und Publikationen dieser Personen auf dem aktuellen Forschungsstand skizziert (28 ff.). Sehr wenig wusste man bislang von dem 1694 gegründeten Theolo-gischen Seminar der Fakultät, dessen Direktor eine strategische Schlüsselstellung innehatte. Die Vfn. benennt die wichtigsten Anliegen (Berufsorientierung, Beteiligung der Philosophischen Fakultät, Theologie und Pädagogik) und schildert die konfliktuöse Entwicklung bis 1750, J. S. Semlers Versuch, gegen die »Waisenhauspartei« eine humanistische Bildungsreform mit einem Philologischen Seminar zu etablieren, sowie die Entscheidungen, die nach Semlers Absetzung 1779 die Trennung der Lehrerausbildung in der Philosophischen Fakultät und der religionspädagogischen Arbeit im Theologischen Seminar zum Ergebnis hatten (35 ff.). Die Entwicklung spiegelte sich auch im Zugriff auf das Fakultäts- und das Stiftungsarchiv, wo die der hallisch-pietistischen Tradition verpflichteten und vom Berliner Hof gestützten Kollegen die Oberhand behielten (84 ff.).
Zu einem Aktionsraum wurden auch die »Wöchentlichen Hallischen Anzeigen«, ein 1729 gegründetes Intelligenzblatt, in dem der Gründer (Jurist und Kanzler) sich anspruchsvoll zu Themen der Theologie äußerte. Die (gar nicht eingeladenen) Theologen meldeten sich kaum zu Wort, erst J. Lange stieg 1739 ein. Kapitel 3 (95–235) berichtet diese Vorgeschichte und listet die Beiträge chronologisch auf, die 1745 bis 1785, unterschiedlich häufig und über mehrere Nummern verteilt, geliefert wurden. Die inhaltliche Charakteris-tik stellt auch fast vergessene Personen und Herausforderungen ans Licht und lässt Schwerpunkte der Populartheologie erkennen, vom exegetischen über das historische zum apologetischen Interesse, in dem »pietistische« und »aufklärerische« Motive in die pädagogisch zu realisierende moralische Fortschrittlichkeit des Chris-tentums mündeten (103 ff.). Wo theologische Themen durch Mediziner, Juristen und Philosophen behandelt wurden (Seele nach dem Tod, Wunder, religiöse Denkfreiheit), ist das Bild noch vielfältiger in Nähe und Distanz, auch Chr. Wolff gegenüber; deutlich wird aber auch die Relativierung der Ausnahmestellung der Theologie (214 ff.). Sehr viele Einzelbeobachtungen präsentiert übersichtlich auch Kapitel 4 über die ›Reinhaltung‹ des theologischen Profils vor allem in der (sich wandelnden) Beziehung zum Berliner Hof (237–458). Das Oberkonsistorium (vor allem J. J. Spalding) beendete fakultätsinternen Streit (z. B. über die Bekehrung) durch Studienreformen, die die Bekenntnisorientierung zurück und christliche Apologetik und enzyklopädisches Lernen in den Vordergrund stellten; der hallisch-pietistische Praxisbezug blieb aber erhalten. Die Vfn. rekonstruiert minutiös die finanziell und personell diffizile Berufungsverhandlung für J. S. Semler und die in der weichenstellenden Nachfolge S. J. Baumgartens (295 ff.). Die kritische Sicht der neologischen Berliner auf das ›pietistische‹ Halle beeinflusste auch die Lehrerlaubnis für Stadtgeistliche und für Mitglieder der Philosophischen Fakultät (332 ff.) und führte zu Eingriffen in die Lehre, spektakulär im Versuch des Ministers v. Zedlitz 1779 ff., C. F. Bahrdt zu berufen (336 ff.). Auch die Analyse der Auseinandersetzungen in der Woellner-Zeit, vor allem des Konflikts 1794/5, den die Fakultät für sich entscheiden konnte (361 ff.), macht ideologische Pauschalurteile hinfort gegenstandslos. Die Vfn. greift auch die Geschichte der Zensur auf, speziell die nach dem Edikt von 1772 durch den Oberkonsistorialrat W. A. Teller, der die Zensurhoheit der Fakultät weiter relativierte (385 ff.). Einen bodennahen Fundus öffnet die Vfn. mit der Gesamtübersicht und dem Referat erhaltener Gutachten zu eherechtlichen Fragen und Problemen der Pfarramtspraxis (446 ff.).
Im Band 2 bzw. Kapitel 5 (459–504) folgen Konflikte vor Ort: die der Franckeschen Anstalten mit Interessen des Berliner Hofs, der Stadt Halle und der Universität, konkret die Anstellung eines Tanzmeister im Pädagogium, vor allem die Krisen der (höchst eigenwillig wirtschaftenden) Anstalten in den 1760er und 1780er Jahren, aber auch der Anspruch auf die Nachlässe von Lehrern und Schülern. Dazu kam die Konkurrenz zwischen Universität und Garnison um die Gottesdienste in der (städtischen) Schulkirche; der pietistische Zuschnitt des akademischen Gottesdienstes verlor auch in der Fakultät an Akzeptanz – er ging 1788/9 ein (482 ff.). Dem staatlichen Eingriff in die universitäre Gerichtsbarkeit 1790 widersetzten sich die Juristen energischer als die Theologen (498 ff.). Kapitel 6 widmet sich der Pflege des Selbstbildes der hallischen Theologie in Gestalt von Traditionsbildungen durch Rückblicke und Rezeptionen (505–696). Auch hier bringt die Vfn. viele ungelesene Quellen in chronologischer Folge zum Sprechen, vor allem Trauerschriften und -briefe (Baumgarten 1759, G. A. Francke, J. G. Knapp, G. A. Freylinghausen, Semler 1791), exemplarische Predigerbiographien oder Semlers zu Lebzeiten gezielt publizierte Autobiographie (1781/2; 578 ff.). Nicht weniger interessant sind auch die Publikationen im Umkreis der Jubiläen der Universität und der Anstalten sowie ein Ausblick auf das beginnende 19. Jh. (636 ff.). Kapitel 7 (697–724) zieht daraus ein Fazit, indem es die institutionellen Strukturen und Akteure vor Ort namhaft macht sowie selektive Rezeptionen und situative Positionierungen gegenüber der Öffentlichkeit und der Berliner Regierung identifiziert (700 ff.). Die Historiographische Reflexion ordnet die komplexe Genese der bisherigen »Masternarrative« und der darin jeweils wirksamen Interessen auch der Zeit vor 1750 sowie der nach 1794 zu, dem Schulterschluss zwischen »Neologen« und nun nicht mehr pejorativ so genannten »Pietisten« gegen die Woellnersche »Orthodoxie« (694.717 ff.).
Zehn Anhänge, vor allem zugeordnete Quellentexte (725 ff.), Quellen- und Literaturverzeichnisse (751 ff.) sowie Personen- und Ortsregister vervollständigen diese überhaupt nicht langweilige Pflichtlektüre für Kirchen- und Theologiehistoriker.