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Ausgabe:

September/2021

Spalte:

812–813

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Rüttgers, Nicole Katrin

Titel/Untertitel:

Gott als Vater im Jeremiabuch. Eine exegetische Analyse.

Verlag:

Würzburg: Echter Verlag 2019. X, 277 S. = Forschung zur Bibel, 136. Kart. EUR 30,00. ISBN 9783429044749.

Rezensent:

Christl M. Maier

Die von Hermann-Josef Stipp an der LMU München betreute Dissertation von Nicole Katrin Rüttgers untersucht die vier Stellen, an denen im Jeremiabuch die Vaterschaftsmetapher ein persönliches Gottesverhältnis des Volkes charakterisiert (Jer 3,4.19; 31,9.20). Das recht begrenzte Ziel der Untersuchung ist es zu klären, was dieses Gottesbild für das Volk bedeute. Ausgeklammert bleibt eine Verhältnisbestimmung der Vatermetapher zu dem im Jeremiabuch weit häufigeren Verweis auf die »Väter« der Adressaten (Jer 2,5; 3,18.24 f.; 30,3; 31,29 u. ö.).
Auf eine knappe Einleitung mit kurzer Darstellung des Forschungsstandes (1–16) folgen im Hauptteil detaillierte Textanalysen von Jer 3,1–5; 3,19–4,2; 31,7–14 und 31,15–22 (17–207) sowie ein Schlussteil mit Folgerungen zum theologischen Gehalt (208–232). Ein Literaturverzeichnis und ein Bibelstellenregister schließen den Band ab.
R. legt ihrer Untersuchung ausschließlich den masoretischen Text der o. g. Abschnitte zugrunde und analysiert diese synchron unter Verwendung der von W. Richter begründeten Satzanalyse und der poetisch-ornamentalen Analyse nach W. Groß. Angesichts der mit fiktiven Zitaten des Volkes arbeitenden Disputationsworte wäre allerdings zusätzlich eine rhetorische Analyse notwendig gewesen, ohne die der Aussagegehalt jenseits der vordergründigen grammatischen Strukturen nicht zu erfassen ist. Erstaunlich ist, dass sich die Arbeit textkritisch am Apparat der BHS orientiert und gerade nicht den von Stipp zu Recht eingeforderten Vergleich von MT und LXX für die Exegese fruchtbar macht, was zumindest für Jer 31,9.20 zu Akzentverschiebungen in den Aussagen geführt hätte.
Die Textanalysen sind akribisch und umfänglich, bieten aber insgesamt wenig neue Beobachtungen, so dass der analytische Aufwand in einem gewissen Missverhältnis zum exegetischen Ertrag steht, der wie folgt summiert werden kann: 1) In Jer 3,4 diene die Vateranrede im Zitat des Volkes dem Versuch, an Gottes Vergebungsbereitschaft zu appellieren, ohne dass das Volk sein schuldhaftes Verhalten ändern wolle (52). 2) Die in der Gottesrede Jer 3,19 ausgedrückte Erwartung, das Volk werde ihn »Vater« nennen, weil er es unter die Söhne und damit Erben aufnehme, zeige Gottes Treue, obwohl das Volk nach 2,27 das Holz, d. h. ein Götzenbild, als »Vater« angerufen habe (83). Den Umstand, dass das Volk in 3,19 explizit weiblich adressiert wird, wertet R. nicht weiter aus, was angesichts der Frage nach der Bedeutung einer durch den Vaterbegriff konstituierten Beziehung zwischen Gott und Volk durchaus relevant ist. 3) Im Rahmen des sogenannten »Trostbüchleins« (Jer 30–31) motiviere der Verweis auf Gottes Vaterschaft gegenüber Israel in 31,9 die Rückkehr der Verbannten. Im folgenden Vers werde das Volk mit Efraim als männlichem Erstgeborenen identifiziert, was wie in 3,19 ff. eine Ablösung von der Tochtermetapher darstelle (152 f.). 4) In Jer 31,20 ergibt sich das Problem, dass Gott nicht explizit als Vater bezeichnet wird, sondern allenfalls indirekt, insofern von Efraim als Sohn die Rede ist, noch dazu in einer rhetorischen Frage, ob Efraim tatsächlich Gottes Lieblingskind sei (197). In ähnlicher Weise ist die Vatermetapher in 31,22 nur implizit präsent, wenn die »Jungfrau Israel« als abtrünnige Tochter charakterisiert wird. Auch hier ist – wie in 3,19 – der Genuswechsel in der Adressierung des Volkes auffällig. Die folgende rätselhafte Aussage »Weibliches umschirmt den Mann« (31,22c) betont nach R. die Rückkehr aus dem Exil als Gottes neues Schöpfungshandeln, was durch die Segensverheißung über Mann und Frau aus Gen 1,27 f. bestätigt werde (207).
Erst nach den Textanalysen thematisiert R. den Gebrauch der Vatermetapher im Alten Orient und Alten Testament, bei Letzterem referiert sie im Wesentlichen die im Einleitungskapitel genannten Studien. Für das Jeremiabuch hält sie im theologischen Resümee fest, dass die Vatermetapher die Ehemetapher ablöse und so einen Neuanfang im Verhältnis Gott-Volk betone (217). Die Metapher sei deshalb so tröstlich, weil sie trotz des Exils Gottes Erbarmen und bleibende Zuwendung zu seinem Volk ausdrücke und dieses positive Vaterbild das Volk zur Umkehr motiviere (221 f.).
Hatte R. schon zu Beginn den Wandel des Vaterbildes in der gegenwärtigen Gesellschaft skizziert, so wird am Ende ihre eigene, traditionell-konservative Sicht auf die Familie deutlich, wenn sie die Charakterisierung Gottes im Jeremiabuch als hermeneutisch zu reflektierendes Leitbild für »gesunde« Vaterschaft beschwört: »Der moderne Vater ist dabei herausgefordert, entgegen dem Mainstream die Chance zu ergreifen, seine Rolle als Familienoberhaupt wiederzuerlangen« (230). Dass diese Rolle die Aufgaben Ernährung und Erziehung und Gewalt (sic!) umfasse, hatte R. schon eingangs einer Studie des pädagogischen Psychologen H. Walter entnommen (2; vgl. 229), der freilich an der zitierten Stelle ein anderes Werk referiert und dessen veraltetes Vaterbild beklagt. Am Ende sieht R. das Vaterbild im Jeremiabuch als Bestätigung dieser väterlichen Aufgaben: »Liebe und Strafe schließen einander nicht aus […], denn damit würde der Vater zum Despoten (oder Weichling). Vielmehr ist das eine durch das andere bedingt. ›Ge­ walt‹, in diesem Sinne verstanden, vervollständigt die gesunde Vaterrolle« (230). Hier zeigt sich einmal mehr, dass die Applikation biblischer Texte auf heutige ethische Fragestellungen ohne eine kritische Analyse von Geschlechterverhältnissen und Männlichkeitskonzepten in die Irre führt. Angesichts der detailreichen Einzelanalysen und einer Jeremiatradition, die bekanntlich den Un­tergang Jerusalems und Judas sowie den Neubeginn für Israel als Kollektiv thematisiert, erscheint dieser theologische Ausblick we­nig plausibel und hermeneutisch rückständig, nicht zuletzt auch deshalb, weil die metaphorische Redeweise von Gott als »Vater« ambivalent bleibt und nicht geeignet ist, die Rolle menschlicher Väter zu legitimieren.