Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2021

Spalte:

738–784

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Abboud, Miled

Titel/Untertitel:

Friedenspotentiale des Christentums und des Islams. Am Beispiel der Koexistenz von Christen und Muslimen im Libanon.

Verlag:

Baden-Baden: Ergon Verlag (Nomos) 2019. 203 S. = Orthodoxie, Orient und Europa, 9. Kart. EUR 38,00. ISBN 9783956506048.

Rezensent:

Uwe Gräbe

Fast 14 Jahre lang war der aus dem Libanon stammende Priester Miled Abboud in Deutschland tätig; bis Ende 2020 trug er dabei die pastorale Verantwortung für die Gläubigen der mit Rom verbundenen Ostkirchen arabischer Sprache im Bistum Münster. Neben den ganz praktischen Herausforderungen des Gemeindeaufbaus hat er in dieser Zeit ein reiches theologisches Schaffen an den Tag gelegt. Die vorliegende Studie von 2019 ist eine Art Fortschreibung seiner 2013 veröffentlichten Dissertation zur Frage des Zusammenhangs von Monotheismus und Gewalt. Nunmehr geht es um die Friedenspotentiale von Christentum und Islam – eine ungeheuer aktuelle Frage angesichts der weltweiten Eruption religiös verbrämter Gewalt.
Das Zusammenleben von Christen und Muslimen im Libanon soll in dieser Studie als Beispiel für solche Friedenspotentiale dienen. Freilich gilt es bei der Lektüre im Bewusstsein zu halten, dass sie verfasst wurde, bevor die soziale und wirtschaftliche Ordnung im Zedernstaat ab Oktober 2019 quasi implodiert ist. Ob der libanesische Gesellschaftsvertrag tatsächlich ein Modell des Zusammenlebens unterschiedlicher Gemeinschaften darstellt – oder nicht vielmehr ein Rezept zur Ausplünderung des Staates durch seine Eliten –, steht seitdem mehr denn je in Frage.
A. nähert sich seinem Thema in vier Kreisen an: Zunächst geht es um Prinzipien einer Koexistenz im Islam, anschließend um katholische Perspektiven auf andere Religionen, sodann um die praktische Ausgestaltung im Libanon und schließlich ausblickartig um das befreiende bzw. soziale Potential des Monotheismus. Ein gewisses Ungleichgewicht mag hier bereits auffallen: Während A. sich im Islam-Kapitel auf die koranischen Grundlagen konzentriert, um so eine Basis zu schaffen, die sowohl für sunnitische wie auch schiitische Gesprächspartner im Libanon akzeptabel ist, wird das christliche Gegenüber durch eine vom Zweiten Vatikanischen Konzil geprägte katholische Sicht definiert. Dass er im Islam besonders die Freiheit vom Zwang in der Religion, die Wertschätzung des Lebens und Gottes Barmherzigkeit betont, ist nicht wirklich originell; auf eine Kontextualisierung solcher Aussagen verzichtet A. Zugleich jedoch ergeben sich in der Tat überzeugende wechselseitige Anschlussmöglichkeiten zwischen Christentum und Islam, wenn er von der Einsicht des Zweiten Vatikanischen Konzils ausgehend, dass Gottes Gnade unsichtbar auch in den anderen Religionen präsent sei, die Ansicht des sunnitischen Gelehrten Mu­hammad Al-Sammak (derzeit Berater des Großmuftis der Libanesischen Republik) zur Sprache bringt, dass es sich bei den Religionen nur um eine einzige in vielerlei Gestalt handele.
Freilich stellt ein solch universalistischer Ansatz, den A. auch bei dem 2005 verstorbenen maronitischen Theologen Youakim Moubarak erkennt, letztlich das auf einen konfessionellen Proporz ge­gründete libanesische Gesellschaftssystem fundamental in Frage. Und so verwundert es nicht, dass weite Teile dieses Buches letztlich als ein einziges Ringen mit diesem Gesellschaftsmodell er­scheinen. Einerseits würdigt A. den Libanon als »Land der Minderheiten« und stellt heraus, wie oft er in der Geschichte eine Zu­fluchtsstätte für verfolgte konfessionelle Gemeinschaften dargestellt hat. Andererseits referiert er sehr umfassend einen schiitischen Gelehrten wie den Imam Muhammad Mahdi Schams Al-Din (1936–2001), der sich massiv gegen das Privilegiensystem wendet, welches aus dem konfessionellen Proporz resultiert, und der auf der Basis einer allgemeinen Gleichheit die Rede von »geschützten Minderheiten« daher rundweg ablehnt. Einerseits lobt A. den geschützten rechtlichen Raum und die daraus resultierende große Freiheit, die es den Kirchen im Libanon ermöglicht haben, ein exzellentes Bildungssys-tem für alle Teile der Bevölkerung aufzubauen (wobei er all die damit einhergehenden aktuellen Probleme, z. B. im Blick auf die Zahlung von Lehrergehältern, freilich nicht erwähnt). Andererseits verweist er sehr klar auf Probleme in einem konfessionell verantworteten Personenstandsrecht, in welchem z. B. die Kategorie der Konfessionslosen eigentlich keinen Platz hat.
A.s Antwort auf solche Spannungsbögen entspricht derjenigen, welche auch von der Leitung des maronitischen Patriarchats im Libanon immer wieder vorgetragen wird: Weder gelte es, das konfessionelle Gesellschaftssystem abzuschaffen, noch um jeden Preis an seiner jetzigen Form festzuhalten. Vielmehr bestehe die Herausforderung darin, den Konfessionalismus zu »verbessern«. Wie dies geschehen könnte – gerade auch angesichts der Millionen von Menschen, die seit dem 17. Oktober 2019 im Libanon auf die Straße gegangen sind, weil sie den Vertretern des bestehenden Systems keine konstruktive Rolle mehr zutrauen –, das ist eine Frage, die man wohl erneut an den Verfasser dieses durchaus erhellenden und gut lesbaren Büchleins richten möchte.