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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

751-753

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Jager, Cornelia

Titel/Untertitel:

Gottesdienst ohne Stufen. Ort der Begegnung für Menschen mit und ohne geistige Behinderung.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2018. 367 S. m. 27 Abb. = Behinderung – Theologie – Kirche, 11. Kart. EUR 39,00. ISBN 9783170344693.

Rezensent:

Heike Springhart

Cornelia Jager macht in ihrer praktisch-theologischen Dissertation anregend und instruktiv Erfahrungen fruchtbar, die sie in ihrer Tätigkeit als Pfarrerin einer evangelischen Kirchengemeinde und der »Aktion Menschenstadt« der Evangelischen Kirche in Essen mit Gottesdiensten mit Menschen mit und ohne geistige Behinderung gemacht hat. In konstruktiver Aufnahme des Modells einer »Ge­meinde ohne Stufen« ihres Doktorvaters Günter Ruddat entwickelt sie ein differenziertes und für die Gottesdienstpraxis anregendes Modell von »Gottesdienst ohne Stufen«.
Ihr Werk ist verortet im theologischen und diakoniewissenschaftlichen Diskurs um Gesundheit, Krankheit und Behinderung, wobei die Infragestellung einer Abgrenzung von Gesunden, Kranken und Behinderten eine zentrale Leitperspektive ihres Ansatzes ist. Sie setzt sich kritisch ins Verhältnis zu Ansätzen, die den Begriff und das Konzept von Inklusion in den Mittelpunkt von Theorie und Praxis rücken, ohne deren Anliegen aufzugeben. Damit leistet J. einen eigenständigen und theologisch begründeten Ansatz im breiten Feld des Diskurses um Behinderung und Inklusion. Dass das intensive Gespräch mit Arbeiten aus dem Bereich der Disability Studies ein Desiderat bleibt, konzediert sie selbst in ihren Forschungsperspektiven am Ende des Buches. Auch wenn das Werk durchweg auf den Gottesdienst als Begegnungsort für Menschen mit und ohne geistige Behinderung fokussiert ist, bietet es grundlegende homiletische, liturgische und pastoraltheologische Reflexionen, die für die Gottesdienstlandschaft insgesamt weiterführend sind.
Als Leitperspektive ihres Werks benennt J. »die Vision einer Kirche, in der wahre Begegnung stattfindet« (13). Dabei hat sie so-wohl die zwischenmenschlichen Begegnungen von Menschen mit unterschiedlichen Lebensbedingungen als auch die Begegnung von Menschen mit Gott im Blick. Den Gottesdienst versteht sie als den »zentralen Ort«, an dem solche Begegnungen möglich sind. Konfessionell sind J.s Reflexionen auf den evangelischen Gottesdienst bezogen, wobei der parochiale Gottesdienst exemplarisch reflektiert wird. In seinem Anspruch, der zentrale geistliche Begegnungsort der Gemeinde als Gemeinschaft der Verschiedenen zu sein, bietet sich der kirchengemeindliche Gottesdienst für eine solche Überlegung in der Tat an. Damit wird eine grundlegende hermeneutische Linie der Arbeit J.s deutlich, insofern sie durchweg dafür plädiert, die Begegnung und Gemeinschaft von Menschen mit und ohne geistige Behinderung nicht als Sonderfall oder Ausnahmesituation zu verstehen, sondern als eine der vielen Schnitt- und Begegnungsstellen von Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen, die im Gottesdienst im gemeinsamen Feiern zusammenkommen. Sie plädiert für ein Verständnis und eine Gestaltung von Gottesdienst, der sowohl im Blick auf die räumlichen Bedingungen als auch im Blick auf die Gestaltung stufenlos sein soll. Basierend auf der Gleichstellung aller Menschen soll so »jedem und jeder Gottesdienstbesuchenden volle Teilhabe und gleichberechtigte Mitwirkung am Gottesdienst« ermöglicht werden (14).
J.s Buch durchziehen konkrete Plädoyers für Bedingungen und Grundentscheidungen, durch die sich eine Gemeinde ohne Stufen im Gottesdienst ohne Stufen adäquat realisiert und feiernd begegnet. Diese Plädoyers formuliert sie unter der Überschrift »Perspektiven« im Anschluss an jeden Unterabschnitt der ersten vier Kapitel. Nach einem Fazit der theologischen, anthropologischen und kirchentheoretischen Reflexionen im 5. Kapitel folgt das – vom Umfang her nahezu die Hälfte des Buches ausmachende – 6. Kapitel mit konkreten Konsequenzen für Verständnis und Gestaltung von Gottesdiensten.
Die Basis für dieses an praxisorientierten Anregungen äußerst reichhaltige 6. Kapitel bilden grundsätzliche Reflexionen (die sie jeweils als »Annäherungen« versteht) über die phänomenologischen Rahmenbedingungen. Dafür verortet J. das Phänomen der geistigen Behinderung im Diskursfeld von Gesundheit, Krankheit und Behinderung. Die »Annäherung an den Menschen« (Kapitel 2) erfolgt in technologisch-naturwissenschaftlicher, utilitaristischer und christlicher Perspektive. Dabei nimmt sie die klassischen Linien der theologischen Anthropologie auf und beschreibt den Menschen in seiner Geschöpflichkeit, Gottebenbildlichkeit, als simul iustus et peccator, als Sünder und in eschatologischer Perspektive. Der grundlegenden Spannung und Begrenzung der theologischen Anthropologie auf eine generalisierende Beschreibung des Menschen trägt sie durch ein eigenes Kapitel 3 mit Annäherungen an Menschen mit geistiger Behinderung Rechnung. Dabei beschreibt J. denkbar ausdifferenziert die Lebensbedingungen und Voraussetzungen von Menschen mit geistiger Behinderung – sowohl im Blick auf die Lebensphasen als auch auf die verschiedenen Lebensorte und Wohnformen, die für das Sozialleben von entscheidender Bedeutung sind. Als wesentliche »Lebensdimensionen« beschreibt sie Leben und Arbeiten, Erziehung, Lernen und Bildung und schließlich die Religiosität von Menschen mit geistiger Behinderung. Dabei gelingt ihr eine differenzierte und empirieorientierte Wahrnehmung der konkreten Lebenssituation von Menschen mit geistiger Behinderung, die die Voraussetzung für eine sensibel entwickelte und konzipierte Gottesdienstpraxis ist. Im soziologisch und sozialwissenschaftlich orientierten Kapitel 4 entfaltet J. Prinzipien und Konstellationen, die bei der Begegnung von Menschen mit und ohne geistige Behinderung eine Rolle spielen. Dies impliziert insbesondere den Aspekt der Inklusion, aber auch die von ihr beobachteten Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit geistiger Behinderung. Dabei ist für J. von zentraler Bedeutung, dass »ein christlicher Gottesdienst […] immer inklusiv [ist]«, andernfalls »missachtet [er] den Gemeinschaftswillen Gottes, seines Gastgebers« (87). Im Blick auf die Leitbilder für eine inklusive Gemeinde setzt sich J. kritisch mit den Ansätzen von Jan Hen driks (Gemeinde als Herberge), Paul-Hermann Zellfelder-Held (Solidarische Gemeinde) und Günter Ruddat (Gemeinde ohne Stufen) auseinander, wobei ihr das Modell Ruddats für das Anliegen einer Gemeinde als Begegnungsraum für Menschen mit und ohne geistige Behinderung am angemessensten erscheint. Im Fazit (Kapitel 5) beschreibt J. als wesentliche Prinzipien für den Gottesdienst ohne Stufen die Prinzipien der Gleichstellung, Elementarisierung, Rhythmisierung, Teilhabe, Handlungsorientierung und Wiederholung. Auf der Basis dieser Prinzipien bietet sie dann im zweiten Hauptteil der Arbeit (Kapitel 6) ihre gottesdiensttheoretischen und -praktischen Impulse. Dabei orientiert sie sich am Grundgedanken des Gottesdienstes als Kommunikationsgeschehen, Fest und Feier sowie als Gestaltungsaufgabe. Indem sie die Gestaltung des Got-tesdienstes ohne Stufen an den Kriterien und liturgischen Grundentscheidungen des Evangelischen Gottesdienstbuches orientiert, macht sie überzeugend deutlich, dass es sich beim Gottesdienst ohne Stufen für Menschen mit und ohne geistige Behinderung nicht um eine Sonderform jenseits der gottesdienstlichen Tradition handeln kann, dass dieser jedoch der Situation und den Feiernden angemessen gestaltet und gefeiert werden muss. Wie das konkret aussehen kann, stellt sie an den Dimensionen (leichte) Sprache, Musik und insbesondere Abendmahl dar. Dabei sind grundlegende homiletische, rhetorische und liturgische Reflexionen verbunden mit konkret ausformulierten Gottesdienstentwürfen.
Auf diese Weise ist das Buch J.s auch eine Fundgrube für Menschen, die Gottesdienste zu gestalten haben. Dass sie am Ende weitere Forschungsperspektiven beschreibt, macht sowohl die paradigmatische Bedeutung des Dargestellten wie die Notwendigkeit weiterer konzeptioneller Vernetzungen deutlich. Insgesamt beschreitet J. einen empirisch, theologisch und praxisorientierten weiten Horizont in einer mit großem Gewinn lesbaren Sprache.