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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

743-745

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Slenczka, Notger

Titel/Untertitel:

Theologie der reformatorischen Bekenntnisschriften. Einheit und Anspruch.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020. 736 S. Geb. EUR 68,00. ISBN 9783374065318.

Rezensent:

Anne Käfer

»[D]ie Frage dieses Buches zielt auf den inneren Zusammenhang der Bekenntnisse selbst und auf den Zusammenhang der Bekenntnisse untereinander. Diese Frage […] ist die Frage nach dem Sinn, nach dem einheitsbildenden Zusammenhang, dessen Buchstaben und Worte die einzelnen Bekenntnisse und ihre Artikel und Sätze sind.« (30)
Über viele Jahre und unter ständigen Modifikationen von Vorlesungsmanuskripten hat Notger Slenczka, Professor für Systematische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, die vorliegende »Theologie der reformatorischen Bekenntnisschriften« in elf Paragraphen ausgearbeitet. Einführend hält S. fest, dass der Sinn der Bekenntnisse sich erschließe, wenn die »existentielle Situation«, aus der heraus die lutherischen wie die reformierten Bekenntnisse verfasst worden seien, im Blick behalten werde. Die lutherischen Texte kreisten um die Frage »nach der Gewissheit der Liebe Got-tes«, die reformierten hätten »die heilsame Neuorientierung des menschlichen Lebens« im Blick, die mit dem christlichen Glauben einhergehe (52). Die Bekenntnisse beider Konfessionen glichen sich jedoch darin, dass sie als Bekenntnisse der Kirche Orientierungs hilfe für Verkündigung und Sakramentsverwaltung seien. Sie machten deutlich, dass die signa ecclesiae dem Menschen die Erkenntnis seiner selbst ermöglichen sollten, damit dieser »seine Identität und sein Wesen nicht mehr in sich selbst, sondern in einem anderen seiner selbst findet und begründet sieht« (52).
Um seine Thesen zu entfalten, kündigt S. in § 1 die Interpreta-tion maßgeblicher Quellentexte an. Das Konkordienbuch sowie re­formierte Bekenntnisse aus dem 16. und 17. Jh. bis hin zu den Dordrechter Canones bilden die Bezugstexte seiner Ausführungen. Zunächst stellt S. die historischen Hintergründe dar, die die Abfassung der reformatorischen Texte bedingten (§ 2), ehe er sich ihrer Bedeutung und ihrem Inhalt zuwendet (§ 3). Unter den lutherischen Bekenntnissen wird vor allem die CA ausgiebig behandelt, da sie »Grundlage des Corpus der Lutherischen Bekenntnisse« sei (263). Hierbei widmet S. vor allem der Beziehung von Bekenntnis und Schrift besondere Aufmerksamkeit. Er fragt nach dem Verhältnis zwischen der Schrift als norma normans non normata und dem Bekenntnis als norma normans normata und bringt unter Verweis auf diese zweifache lateinische Formel eine wichtige Absicht seiner Ausführungen auf den Punkt: »[W]enn ich mir etwas wünschen dürfte, was dieses Buch erreichen soll, dann würde ich mir wünschen, dass es dazu führt, dass diese ungenaue Formel […] aus dem kirchlichen und theologischen Gerede verschwindet.« (230)
Die Ungenauigkeit dieser Formel macht S. deutlich, indem er auf die Funktion des Bekenntnisses verweist. Dieses sei nämlich als »hermeneutischer Schlüssel« zum Verständnis der Schrift zu verstehen, die dazu diene, »Vertrauensglauben zu wecken« (253). Indem das Bekenntnis auf diesen Zweck des Schriftgebrauchs hinweise, sei es dem Verstehen der Schrift normierend vorangestellt; allerdings jedoch müsse der hermeneutische Schlüssel wiederum an der Schrift verifiziert werden. Auch für die reformierte Bekenntnistradition treffe diese Einsicht zu, wobei hier davon ausgegangen werde, dass der hermeneutische Schlüssel bei der Lektüre der Schrift immer wieder neu gefunden und dann in Bekenntnissen ausgedrückt werden müsse.
Die Verpflichtung auf das Bekenntnis, die insbesondere im Or­dinationsgelübde kirchlicher Amtspersonen gefordert sei, bedeute also keineswegs die Verpflichtung auf eine buchstäblich für wahr zu haltende »Glaubensnorm« (257). Vielmehr sei die Amtsperson, angeleitet durch das Bekenntnis, in Verkündigung und Sakramentsverwaltung dem Zentrum der Schrift verpflichtet, nämlich der »Rechtfertigung des Sünders durch das Werk Christi, das der Glaube ergreift«, der darum Vertrauensglaube sei (257).
Ausgehend von der Ekklesiologie der CA thematisiert S. in § 4 die bekenntnisgemäße Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus und in § 5 die Verwaltung der Sakramente, und zwar vor allem unter Hinzuziehung der FC und der Confessio Helvetica Posterior. Diese reformatorischen Bekenntnisse, denen wie allen anderen auch an der Selbsterkenntnis des Menschen gelegen sei, stellten deutlich heraus, »dass Wort und Sakrament auf ein präkognitives Verstehen, ein Selbstverständnis und auf eine Lebenspraxis zielen […], die die Bekenntnisse zugleich als Einweisung in die geschöpfliche Bestimmung des Menschen verstehen« (515). Dazu, dass dieses Selbstverständnis und eine entsprechende Lebenspraxis den Laien vermittelt werden, dienten im Besonderen die Katechismen. Im sechsten Paragraphen wendet sich S. daher sowohl Luthers Katechismen als auch dem Heidelberger Katechismus zu.
Dass die geschöpfliche Bestimmung des Menschen durch dessen Angewiesenheit auf Gottes rechtfertigende Heilszuwendung ausgezeichnet sei, derentwegen jener sich »im anderen seiner selbst begründet weiß«, dies führt S. anhand zweier in den Bekenntnis-traditionen unterschiedlich verfasster Loci aus (515). Er erörtert die Lehre von der Erwählung, wobei er unter anderem in die Dordrechter Canones Einblick gibt (§ 7), und er verhandelt das Lehrstück von der Höllenfahrt Christi (§ 8). Der Artikel »Von der Höllenfahrt Christi« (FC IX) sei »das Zentrum der lutherischen Bekenntnisschriften und zugleich der Artikel, mit dem das protestantische Verständnis der Bekenntnisschriften steht und fällt« (601). Denn mit der Rede von der Höllenfahrt werde die Freiheit von Sünde, Tod und Teufel ausgesagt. Und diese Aussage habe existentielle Bedeutung, insofern »sie etwas im Selbstverständnis des Menschen ›an­richtet‹: es deutend so neubestimmt, dass es von sich selbst sagen kann, dass es ›nun‹ in der Wahrheit ist: mit sich selbst übereinstimmt« (611). S. hält fest, die Wahrheit über sich selbst wisse ein Mensch dann, wenn er eins sei mit Gott, dem Geber evangelischer Freiheit. Um eingehender von der wahren Selbsterkenntnis des Menschen handeln zu können, bedürfe es allerdings eines eigenen Buches, und, wie S. wiederholt ankündigt, sei ein solches aus seiner Feder zu erwarten.
In § 9 geht S. vor allem der Frage nach, ob die Barmer Theologische Erklärung als lutherisches Bekenntnis verstanden werden könne. In § 10 prüft er, inwiefern die Leuenberger Konkordie lutherische und reformierte Lehren zusammenführe. Anhand dieser beiden kirchlichen Texte und im Blick auf neuere Auseinandersetzungen um Bekenntnisse in den deutschen evangelischen Kirchen fragt S. nach, welche Bedeutung den konfessionellen Eigenheiten der Bekenntnisse zuzumessen sei (§ 11). Zwar seien in den lutherischen und reformierten Bekenntnissen aufgrund der differenten Zugänge zum Bekenntnis divergierende Lehren festgehalten, de­ren Unterschiede keinesfalls nivelliert werden sollten. Doch in beiden Traditionen höben die Bekenntnisse darauf ab, deutlich zu machen, »dass alle Aussagen der Schrift darauf abzielen, lebensbestimmendes Vertrauen zu wecken und einzuweisen in das Be­wusstsein wohltuender schlechthinniger Abhängigkeit« (714).
S.s Theologie der reformatorischen Bekenntnisschriften ist ein stringent durchkomponiertes Werk, das eine Vielzahl an Themen umfasst, die gleichsam leitmotivisch vom Selbsterkenntnis wirkenden Heilswillen Gottes zusammengehalten sind. Das Buch ist vor allem denjenigen, die Ämter der Kirche bekleiden, zu empfehlen, damit sie nicht vergessen, die existentielle Bedeutung des Evangeliums zur Geltung zu bringen, so wie es die Bekenntnisse verlangen. Für den theologischen Nachwuchs ist S.s Band ein gut lesbares Lehrbuch, bei dessen Lektüre theologisches Denken ge­lernt werden kann.