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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

736-738

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Chan, John

Titel/Untertitel:

Gebet als christliches Sein, Leben und Tun. Die Bedeutung und Funktion des Gebets für die Theologie der »analogia fidei« Karl Barths.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016. 290 S. = Arbeiten zur Systematischen Theologie, 10. Geb. EUR 88,00. ISBN 9783374042951.

Rezensent:

Hartwig von Schubert

John Chan legte die Studie als Dissertation vor und ist seit seiner Promotion 2013 zum Th.D. an der Ruhr-Universität Bochum tätig als Assistent Professor am Alliance Bible Seminary in Hongkong.
C. sieht in der Gebetslehre ein zentrales Thema der Theologie Karl Barths, führt seinen Leser einleitend durch die diesbezügliche jüngere Literatur und entscheidet sich dafür, bei Barth das Gebet nicht nur als locus in seiner Theologie, sondern als fundamentaltheologische Form zu untersuchen, also Barths Programm einer »Theologie in der Sprache des Gebets« (23) zu erörtern. Seine These lautet: »das Gebet ist die anthropologische Relevanz des göttlichen Werkes in Barths Theologie« (23), und der Begriff »anthropologische Relevanz« als »eine einfache Frage formuliert, meint: Wie verhält sich der Mensch vor dem Hintergrund des gnädigen göttlichen Werks?« (25) Die Antwort lautet: Im Gebet zeigen und verbinden sich »Unfähigkeit und Fähigkeit« (25) des Menschen, so dass beim späten Barth »der Akt und die Haltung des Gebets zum christlichen Leben als Ganzem ausgeweitet« werden (26). Es geht also um das Verhältnis von Gott und Mensch sowie darum, wie sich dieses Verhältnis auf die Menschen und die Verhältnisse auswirkt, in denen Menschen leben. Gott und Mensch stehen in der Theologie Barths in einem Analogieverhältnis, das jedoch, wie von ihm und in der Interpretation seines Werks über Jahrzehnte von anderen breit erörtert, nicht in einem beide umfassenden Sein gründet, sondern allein in Gott, so dass es nur glaubend eingesehen werden kann, eben als analogia fidei. Im Aufbau seiner Studie untersucht C. das Gebetsverständnis Barths chronologisch in drei Kapiteln, beginnend 1. mit frühen pfarramtlichen und akademischen Dokumenten, 2. in seiner Schöpfungs- und Vorsehungslehre in KD III, 3. in der Versöhnungslehre in KD IV. Im Schlusskapitel 4. verortet er die Kernfrage in der Diskussion um analogia fidei und analogia entis »in der korrekten anthropologischen Darstellung des göttlichen Werks in der analogischen Rede« (27). Jedes der drei rekonstruierenden Kapitel mündet in eine ausführliche Zusammenfassung, begleitet von gelegentlichen Zusammenfassungen von Unterkapiteln.
1. Aufgrund seiner Prägung durch Schleiermacher bestimme der frühe Barth »das Bittgebet als ein theologisches Signal der menschlichen Schwachheit« (61), das Beten des Menschen geschehe nicht in der eigenen, sondern in der »Freiheit im heiligen Geist« (61) und erhalte seinen Sinn erst »von der Eschatologie her« (62). Eine »konkrete Beziehungsbildung von opus Dei und opus hominis im Gebet« bleibe allerdings offen (63).
2. In KD III bestimme Barth das Gebet als anthropologische Konsequenz der Spannung zwischen dem Bund als ermöglichendem inneren Grund der Schöpfung und der Schöpfung als ermöglichtem äußeren Grund des Bundes: »Dass die Menschen Gott bitten können und dürfen und erhört werden, besagt, dass sie in ihrer Schattenseite die Lichtseite wahrnehmen. Zusammenfassend ge­sagt, kann das Geschöpf vor dem gnädigen Bund nichts anderes tun als beten« (126). Auch hier aber sei »noch nicht vollständig geklärt, wie sich die subjektive und objektive Wirkung des Gebetes als opus Dei und opus hominibus voneinander unterscheiden« (127).
3. Die anthropologische Pointe des Gebets steigere Barth noch stärker in der Versöhnungslehre, in welcher die Ethik in der Struktur des Vaterunsers entwickelt werde mit der Anrufung Gottes als Leitbegriff: »In der Anrufung Gottes als dem geistlichen Leben vollzieht sich auf der Basis der Subjekt-Subjekt Konstellation die un­mittelbare Gemeinschaft von Gott und Mensch im Geist.« (212)
4. C. beschließt seine Studie mit der systematischen Erörterung des Zusammenhangs von Gebetslehre und Analogiebegriff (271 ff.). Barths Hauptsorge gelte dem protestantischen Gnadenbegriff, dies lasse ihn allergisch auf jede Analogisierung von Gott und Mensch reagieren, die nicht ganz und gar und ausschließlich von der Gnade Gottes her gedacht und entwickelt werde. Diese Aversion habe lange auch den Seinsbegriff getroffen, der könne aber am Ende doch unbekümmert zur Geltung gebracht werden. Was immer der Mensch glaubend und handelnd aus sich hervorbringe, sei erst als Gebet theologisch recht verstanden: »Da Glaube auch Gebet ist, wird die analogia fidei nicht mehr als reiner Akt betrachtet, sondern als ein auf dem Seinsbegriff basierendes Konzept. Da Gehorsam auch Gebet ist, ist der actus oboedientialis kein reiner Besitz des Menschen als potentia oboedientialis. Das Gebet ist der ›inhaltliche Unterton‹ der analogen Rede, mit dem die gefährliche Rede von der Fähigkeit und Voraussetzung vermieden werden kann. Im Sein, Leben und Tun des Gebets als Bitte müssen jeder Gehorsam und jeder Glaube mit dem Anfang des Gebets erneut beginnen. Im Gebet ist das Geschöpfsein immer wieder ein anfangendes Sein, in dem der Mensch als Anfänger mit dem Anfang anfängt, Gott zu glauben und zu gehorchen« (284).
Als der Rezensent im Jahre 1979 das Büro des Kieler Systematikers Hans-Joachim Birkner betrat, um seine Examensarbeit über das Thema »Barths Kritik der natürlichen Theologie« zu besprechen, begrüßte ihn der Professor mit den Worten: »Ach gibt es tatsächlich noch Studenten, die sich für Barth interessieren?« Doch C. zeigt mit seiner Arbeit, dass sich das Denken in den Bahnen der »christologischen Konzentration« auch heute noch lohnt. Den dramatischen Protest Barths gegen den Ersten Weltkrieg, gegen Schleiermacher und den liberalen Kulturprotestantismus aus der Theologiegeschichte des 20. Jh.s. zu tilgen, wäre keine gute Idee. Dass sich die insbesondere deutsche evangelisch-theologische Kritik mit einem mehr als gut begründeten Kulturpessimismus verbünden konnte, spricht nicht per se gegen ihn. Eine schlichte Rückkehr zu einem Kulturoptimismus kommt kaum in Frage, ebenso wenig aber jede Art von Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal menschlicher Kultur. Um die Wirklichkeitserfahrungen der Menschen sensibel und solidarisch aufzunehmen, müssen evangelische Christen aber nun nicht erneut »andere Wege« einschlagen als den der christologischen Konzentration. C. zeigt, dass die Weichenstellung zur Anthropologie, sprich zum wirklichen Menschen in seinem wirklichen Leben im Evangelium selbst und seiner Auslegung angelegt ist. Und das kann er mit Barth zeigen. Nachdem dies gelungen ist, darf der Zug nach Passieren dieser Weiche dann aber auch gerne Fahrt aufnehmen. Gewiss steht jeder Mensch immer in der Gefahr, der Dynamik seiner Potenz und Produktivität zu verfallen und das Geschenk, dasein, leben und handeln zu können, für einen Besitz zu halten. Stimmt er sich aber im »Gebet ohne Unterlass« darauf ein, sich selbst als Geschenk zu ge­nießen, dann sollte er das auch in vollen Zügen tun und sich nicht ständig ängstlich um seine Schwächen sorgen. Wahren Genuss aber genießt man nicht für sich allein, sondern in Gemeinschaft. Darüber möchte der Leser von C. künftig gerne mehr erfahren.