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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

711-714

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Lück, Heiner

Titel/Untertitel:

Alma Leucorea. Eine Geschichte der Universität Wittenberg 1502 bis 1817.

Verlag:

Halle (Saale): Universitätsverlag Halle-Wittenberg 2020. 368 S. m. 250 Abb. Geb. EUR 175,00. ISBN 9783869772080.

Rezensent:

Markus Wriedt

Der bekannte Rechtshistoriker Heiner Lück aus Halle, der dort zwischen 1993 und 2019 als Professor für Öffentliches Recht auch die Rechtsgeschichte vertreten hat, ist mit unzähligen Forschungen zur sächsischen Rechtsgeschichte des Mittelalters – hier ist vor allem die Arbeit zum »Sachsenspiegel« zu nennen – und zur Wittenberger Universitätsgeschichte über die Grenzen Europas hinaus bekannt geworden. Fraglos zählt er zu den besten Kennern der diesbezüglichen Archivbestände in Wittenberg und Halle sowie darüber hinaus. Nach der großen Universitätsgeschichte des Archivars und Historikers Karl Walter Friedensburg (1855–1938) aus dem Jahre 1917 sowie den ergänzenden zwei Bänden mit Quellenbeständen (Magdeburg 1926 und 1927) gab es trotz mannigfaltiger Jubiläumsanlässe, zu denen kleinere Aufsatzsammlungen und Beiträge erschienen sind, keine neuere zusammenfassende Darstellung der Geschicke der Universität Wittenberg zwischen 1502 und 1813. Gleichsam als Blüte und Ergebnis seiner bald 40-jährigen Forschungen auf diesem Gebiet legt L. zum Ende seiner akademischen Karriere sein gesammeltes Wissen der Öffentlichkeit vor. Vorher durch zahllose Beiträge zum Thema in Form von Aufsätzen und kleineren thematischen Monografien bereits hinlänglich bekannt, liegt nunmehr eine Synthese der jahrzehntelangen Forschungen vor.
Nicht alles lässt sich in das Format eines für den Buchhandel verkäuflichen Buches pressen. Zuweilen spürt man der Darstellungen die strenge Konzentration ab und vermag dann über den reichen Anmerkungsapparat mit weiterführenden Quellen- und Literaturhinweisen selbständig weiterzuarbeiten. Neben stupender Gelehrsamkeit dokumentiert dieses Werk allerdings auch in bis in feinste Verästelungen der Geschichte der Alma Leucorea hineinreichende Kenntnisse. Sie werden keinem theoretischen Korsett eingezwängt, sondern in chronologischer Abfolge vorgestellt. Die Fülle an Daten und Namen ist enzyklopädisch angelegt. L. verzichtet durchaus bewusst auf zeitenüberschreitende Rekonstruktionen von Prozessen, vermag aber dennoch wichtige Dynamiken erkennbar zu machen. Zugleich beschränkt er sich nicht auf disziplinäre Einsichten, sondern leistet eine interdisziplinäre Zusammenschau der an der Universitätsgeschichte mitwirkenden fachdisziplinären Beiträge zu den vier Fakultäten, ihren Mitgliedern und Universitätsverwandten, den fachlichen Entwicklungen und ihrer Strahlkraft nach ganz Europa – und phasenweise sogar darüber hinaus.
Das mit Vorworten des Universitätsrektors der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und dem Stiftungsvorstand der Leucorea versehene Werk ist in vier Teile gegliedert. Dabei sind es nur zum Teil ereignisgeschichtliche Wegmarken, sondern vor allem schlüssige geisteswissenschaftliche Zusammenhänge, die diese Gliederung auszeichnen. Dass dabei dem vor allem für Reformationshistoriker interessanten ersten Kapitel quantitativ größerer Raum eingeräumt wird, ist zunächst dem entsprechenden Interesse und Arbeitsschwerpunkt von L. geschuldet. Aber der Blick auf die nicht-theologischen Fächer macht auch deutlich, dass bereits in dieser frühen Formierungsphase akademischer Wissenschaft ein dynamischer Prozess des Wandels, hier insbesondere auch der Leitwissenschaften einsetzt. Von Beginn an war die Leucorea – nach Vorbildern in Bologna und Tübingen errichtet – als in einem stän digen Reformprozess befindlich auch statutarisch angelegt. War dies in der ersten Phase eine dezidiert humanistische Gelehrsamkeit befördernde Ausrichtung, erwies kurz darauf der reformationstheologische Aufbruch eine größere Wirkmacht – auch unabhängig von dem exkommunizierten und mit Reichsacht belegten Reformator Martin Luther. Später waren es dann der wieder vordringende Aristotelismus, die Weiterentwicklungen der Naturwissenschaften oder auch zentrale Neuformulierungen bestehender Rechtstatbestände, und schließlich auch entscheidende Impulse der Aufklärung, welche diesen Wandel immer wieder neu provozierten. Wohl auch deswegen war die (kur-)sächsische Landesuniversität nicht nur für die fürstlichen Landeskinder, sondern für sehr viel weiter anreisende Studierende ein wichtiges Ziel ihrer akademischen Ausbildung und Karriere.
Das erste Kapitel ist dem humanistischen Aufbruch und der Reformation bis zu deren Konsolidierung am Ende des 16. Jh.s ge­widmet. Diese in 19 Teilkapitel aufgegliederte Darstellung ist ein wenig disproportional zu den anderen Abschnitten. Das liegt zweifellos an den wirkmächtigen Folgen der Reformation. Spätestens nach dem Frequenzeinbruch der Immatrikulationen zu Beginn der 20er Jahre des 16. Jh.s nimmt die Zahl der Einschreibungen – bis heute wunderbar in der erhaltenen Matrikel der Universität Wittenberg, die in Halle lagert, dokumentiert – stetig zu. Eben nicht nur, aber auch wegen der reformatorischen Theologie zählte Wittenberg bis zum Ende des 17. Jh.s zu den frequenzstärksten Universitäten im Alten Reich. Nicht gerade im Windschatten, ganz sicher aber im Spannungsfeld der konfessionellen Systemkonkurrenz entwickeln sich auch die anderen Fakultäten zu europaweit anerkannten Bildungszentren. Hatte Melanchthon zeitlebens für eine Stärkung der akademischen Grundlagen in der artes-Fakultät gesorgt, er­weist sich die Universitätsleitung auch in der Besetzung wichtiger Professuren auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft und der Medizin als weit vorausblickend. Dies auch zuweilen unter Verzicht auf die konfessionelle Eidesformel und eine damit verbundene unbedingte konfessionelle Loyalität. Daneben behandelt L. auch die institutionelle und materialgeschichtliche Dimension der Universität. Die Darstellung der vier Fakultäten wird immer wieder von Exkursen zu besonders dichten und gut überlieferten Quellenbeständen wie etwa den theologischen Doktorpromotionen, der Spruchtätigkeit oder dem Lehrbetrieb an der juristischen Fakultät unterbrochen. Hier zeigt sich gleichermaßen die exzellente Quellenkenntnis L.s wie auch seine regelmäßige Kenntnisnahme der einschlägigen wissenschaftlichen Publikationen. Schon das steigert den Wert der enzyklopädischen Übersicht auch für die nachfolgenden Forschergenerationen.
Das zweite Kapitel ist der Zeit der konfessionellen Orthodoxie bis hin zur frühen Aufklärung gewidmet. Ausgangspunkt sind die Memorialdaten zur Gründung der Leucorea 1502 und die vorausblickende Fortentwicklung der Universitätseinrichtungen. Neben der dynamischen Ausbildung disziplinären Wissens und den da­mit verbundenen Kulturen widmet sich L. in diesem Kapitel auch der institutionellen und finanziellen Ausgestaltung des Lehr- und Studienbetriebs. Dazu gehört auch die Einrichtung einer Forschung und Lehre unterstützenden Bibliothek. Naturgemäß bleibt die Universität von den gravierenden Umbrüchen des Dreißigjährigen Krieges, aber auch epidemischer Einwirkungen der Pest oder dem dramatischen Bevölkerungswandel in Folge der Verwüstungen des Kriegsgeschehens nicht verschont. Dennoch vermag die Leucorea ihr hohes Ansehen zu bewahren und zieht auch weiterhin zahlreiche Studierende aus ganz Europa an.
Im dritten Kapitel wendet sich L. der Leucorea im Zeitalter der Aufklärung zu. Während die Forschung die Spannung zwischen orthodoxer Lehre, die sich insbesondere über die Zeit der Kriegswirren hinaus bewährt zu haben schien, und dem aufklärerischen Impuls einer neuen Zeit akzentuiert, ist insgesamt doch eher von einem produktiven Miteinander und kommunikativen Ineinander beider Positionen zu reden. Das ist freilich L. nicht anzulasten. Die Universitätsgeschichte des 18. Jh.s gehört weiterhin zu den bisher wenig bearbeiteten Feldern des umfangreichen Themas. Der politische Kontext spielt hierbei ebenso eine Rolle wie der notwendige Ausbau und die finanzielle Ausstattung der Universität im dritten Jahrhundert ihrer Existenz. L. vermag eindrücklich die Dynamiken der Veränderung, freilich auch ihre Hemmnisse, zu dokumentieren. Erneut ist es das Kriegsgeschehen – diesmal das des Siebenjährigen Krieges –, welches die Universität in Mitleidenschaft zieht. Wie schon zum Ende des vorherigen Kapitels schließt auch dieses mit einer knappen Übersicht zu den vier Fakultäten. Hierbei ist unverkennbar, dass die theologische Fakultät langsam ihren Zenit überschritten hat und von den Leitwissenschaften der Geschichte, dann aber vor allem des Rechts abgelöst wird.
Die insgesamt blühende Universität findet ihr Ende, als Sachsen an der Seite Napoleons zu kämpfen hat und die französische Expansion zahlreiche Institutionen und Einrichtungen des Alten Reiches überrennt. Nicht erst mit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 und dem Ende des Alten Reiches 1806, auch schon vorher waren Verfallserscheinungen erkennbar. Sie werden durch die politischen Entwicklungen nurmehr forciert. Die Translokation der Leucorea nach Halle führt zunächst zum Absterben der gesellschaftlichen und kulturellen Präsenz der Universität in der Stadt. Die Inkorporation von Teilen der ernestinischen Länder in das Königreich Preußen tut ihr Übriges, die Bildungslandschaft um das alte Zentrum Wittenberg grundlegend zu verwandeln. Mit einem Ausblick auf die wenigen Jahre unter preußischer Oberhoheit enden das Kapitel und der Band.
Allen Kapiteln sind umfangreiche Anmerkungsteile beigefügt, in denen L. vor allem auf konsultierte Quellen und Sekundärliteratur verweist. Sie erlauben das selbständige Weiterlesen und -arbeiten in den jeweiligen Thematiken. Es mag wohl sein, dass der eine Spezialist oder die andere Fachfrau hier noch Ergänzungen beifügen möchte. Das kann in auf diese Zusammenschau aufbauenden Beiträgen zur Universitätsgeschichtsforschung gut geschehen, soll aber L. nicht zur Kritik gereichen. Der Band ist erkennbar nicht nur für die wenigen Fachkollegen geschrieben, mit denen L. ohnehin in stetem Austausch steht, sondern für ein sehr viel breiteres Publikum, das durch das Werk gut informiert und zum Stöbern einge-laden wird. Dazu tragen auch die 290 farbigen Abbildungen bei, welche die Lektüre immer wieder unterbrechen und das Gesagte eindrücklich illustrieren. Hierbei ist eine gute Mischung von ak­tuellen Fotographien und historischen Zeugnissen gelungen. Letz-tere beleuchten, ohne dass eigens darauf Bezug genommen wird, die kunst- und architekturhistorische Dimension der vorgelegten Universitätsgeschichte. Besonders sei außerdem auf den Anhang von 64 Seiten hingewiesen. Er enthält unter anderem ein Titelverz eichnis der vor 1818 erschienenen – und im Verlauf der Darstellung erwähnten – Druckschriften (303–314). Dieses Verzeichnis wird ergänzt durch ein Quellen- und Literaturverzeichnis.
Hierbei ist ein kleines Versehen zu korrigieren: Die unter Bohnert, Alumni verzeichnete Schrift ist gemeinsam mit Markus Wriedt erstellt worden. Sie ist als Band 38 der Leucorea Studien erschienen und liegt entgegen erster Planungen nun in einem Band vor. L. waren nur Teile des noch nicht abgeschlossenen Manuskripts bekannt. Der Druck erschien 2020, also gleichzeitig mit der großen Universitätsgeschichte.
L. ist zu einem gelungenen Wurf zu gratulieren und dem Buch ein großer Verbreitungsgrad zu wünschen. Wer auch immer sich in Zukunft mit der Geschichte der Universität in Wittenberg be-schäftigen will, wird an diesem Überblick nicht vorbeikommen. Zugleich ist zu wünschen, dass diese Universitätsgeschichte das immer noch häufig als Standard herangezogene Werk von Friedensburg ablöst. Dass manche Forschungsdebatte darin nicht aufgenommen ist, gehört zum Schicksal derartiger Kompendien. Umgekehrt sollte L.s Opus in den neueren Forschungsbemühungen, die unter anderem mit der Auswertung der inzwischen vollständig elektronisch edierten Matrikel (vgl. www.civ-online.org) sowie fachdisziplinären Untersuchungen zu den graduierten Ab­solventen der höheren Fakultäten (mit den Siglen TAV, MAV und JAV – wobei T für Theologiae, M für Medicinae und J für Ju-risprudentiae Alumni Vitebergenses stehen), deren Sozialgeschichte u. v. a. m. inzwischen schon wieder weiter fortschreiten. Die L.sche Universitätsgeschichte ist von enzyklopädischer Be-d­eutung und für zahlreiche weiterführende Untersuchungen hoch anschlussfähig.