Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

705-706

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Christ-von Wedel, Christine

Titel/Untertitel:

Erasmus of Rotterdam. A Portrait.

Verlag:

Basel: Schwabe Verlag 2020. 175 S. m. 9 Abb. Geb. CHF 36,00. ISBN 9783796541926.

Rezensent:

Christoph Strohm

Die kleine, englischsprachige Biographie ist der Ertrag langjähriger Beschäftigung der Autorin Christine Christ-von Wedel mit Leben und Werk des Humanisten Erasmus von Rotterdam. Mit viel Sympathie schreitet sie den Lebensweg des wichtigsten Vertreters des Humanismus nördlich der Alpen ab. Für die einzelnen Lebensphasen wichtige Themen werden anhand der einschlägigen Schriften vorgestellt. Aus diesen werden zahlreiche, in flüssiges Englisch übertragene Zitate geboten, was der Anschaulichkeit und guten Lesbarkeit dienlich ist. Auf dem Hintergrund einer insgesamt we­n ig inspirierenden, mit Hilfe der Schilderungen Erasmus’ illustrierten Schul- und Studienzeit werden dessen fortschrittliche und wirkungsreiche pädagogische Konzepte erläutert. Ein weiteres Kapitel skizziert die Entwicklung seines bibelphilologischen und philosophischen Werks seit einem Aufenthalt in England 1499 (33–44). Das 1503 erschienene Enchiridion militis Christiani zeigt die neue Verbindung von Christentum und Platonismus und zugleich die Abwendung von der Scholastik. Die Entdeckung eines Manuskripts der Annotationen Lorenzo Vallas zum Neuen Testament bildet den entscheidenden Anstoß für seine diesbezüglichen Arbeiten. Sie kommen in der Rekonstruktion des griechischen Textes des Neuen Testaments, dem Novum Instrumentum (später: Testamentum) Graece, erschienen zuerst 1516, zu einem vorläufigen Ziel. Erasmus wird als Pionier nicht nur der textkritischen Erforschung des Neuen Testaments, sondern auch einer historisch-kritischen Schriftauslegung gewürdigt (59–61).
Im Streit mit Luther um den freien Willen beklagt die Vfn. dessen maßlose Kritik an Erasmus und stellt sich ganz auf die Seite des Humanisten (99–103). Zu Recht wird Erasmus’ Verdienst um die Etablierung der loci-Methode zur Darstellung der Theologie wie auch anderer Wissenschaften herausgestellt (61–63). Hier wäre je­doch auch Rudolf Agricola zu nennen, der in seinen (zum Beispiel für Melanchthon) grundlegenden De inventione dialectica libri tres (postum 1515) bereits vor Erasmus die wesentlichen Impulse zur Zurückdrängung der Syllogistik (iudicium) zugunsten der von der Rhetorik geschätzten Einteilungslehre (inventio) gegeben hat.
Die Vfn. setzt im Vergleich zu bisherigen Darstellungen des Lebens und Werkes Erasmus’ neue Schwerpunkte. So nimmt das modern anmutende Frauenbild und gleichsam emanzipative Partnerschaftsverständnis breiten Raum ein (126–137). Dem entgegenstehende Gesichtspunkte werden zumindest erwähnt (137). Auch Erasmus’ Pazifismus in den frühen Schriften mitsamt der Rechtfertigung der Notwendigkeit des Krieges gegen die Türken von 1530 wird gewürdigt (151–157).
Die Vfn. betont Erasmus’ Verdienste um Toleranz und Gewissensfreiheit (43 f.51 f. 110.115 und 149 f.). Auch gegen die Reformatoren seiner langjährigen Heimat Basel habe er den Grundsatz, dass niemand zu einer neuen religiösen Praxis gezwungen werden dürfe, verteidigt. Seine Ideen hätten Ireniker bis in das 18. Jh. inspiriert, seien aber erst in der Aufklärung allgemein anerkannt worden (150). Erasmus’ Beitrag in dieser Sache ist zu würdigen, aber man sollte andere Autoren nicht nur zu dessen Profilierung heranziehen. Nicht erst Erasmus, sondern in Ansätzen schon Augustin hat das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24–30) im Sinne eines Verzichts auf eine Auslöschung von Häretikern vor dem Ende der Zeit ausgelegt (44). Erasmus erscheint als Urheber des Reichsreligionsgesprächs in Regensburg 1541, auf dem eine vorläufige Einigung in der Rechtfertigungslehre gelang. Zwar waren die beteiligten Theologen auf katholischer wie evangelischer Seite, Julius Pflug, Johannes Gropper und Martin Bucer, von Erasmus beeinflusst, aber die Reichsreligionsgespräche 1540/41 gehen nicht auf dessen Initiative, sondern auf Kaiser Karl V. zurück (157). Erasmus’ Bemühen um Toleranz gilt nach der Darstellung der Vfn. auch nichtchristlichen Religionen. Entsprechend ist sie bestrebt, die judenfeindlichen Äußerungen und Erasmus’ lateinische Übersetzung von fünf entsprechenden Reden des Johannes Chrysostomus zu relativieren (115–120).
Problematisch ist die Methode, Erasmus’ Werk und Wirken durchgehend durch Rückgriffe auf den Reformator Luther zu profilieren. Das erfolgt meist in verkürzender, manchmal verzerrender Weise. Luther bietet lediglich die Negativfolie, auf deren Hintergrund der Held Erasmus umso heller strahlen kann (10.19.41.44.61. 78.89–91.105 f.116 f.122.150.152.154 und 164). Das wird noch verstärkt durch neun ganzseitige Karikaturen, die das Verhältnis von Luther und Erasmus mit Sprechblasen versehen »karikieren«. Angefügt ist eine hilfreiche chronologische Übersicht. Ein Personen- und Sachregister fehlt hingegen. Wer eine knappe, sehr gut lesbare Darstellung sucht, die die wesentlichen Aspekte des Wirkens Erasmus’ und in Ansätzen auch die Wirkungsgeschichte skizziert, dem sei das Buch gleichwohl empfohlen.