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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

660-663

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kinitz, Daniel

Titel/Untertitel:

Die andere Seite des Islam. Säkularismus-Diskurs und muslimische Intellektuelle im modernen Ägypten.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. X, 351 S. = Religion and Its Others, 7. Geb. EUR 113,95. ISBN 9783110461855.

Rezensent:

Henning Wrogemann

Daniel Kinitz grenzt sich gleich zu Beginn der Arbeit methodisch von anderen Versuchen ab, in denen nach einem Phänomen »Säkularismus« in mehrheitlich muslimischen Gesellschaften gefragt und dieses in der Gegenüberstellung von Säkularist und Islamist fokussiert werde (3 f.). Dies würde voraussetzen, dass ein gewisses Einverständnis darüber existiert, was unter Säkularismus zu verstehen ist. Da dies nach Ansicht des Vf.s nicht der Fall ist, fragt er danach, welche Probleme der Gesellschaft unter Säkularismus (arab. al-calmānīya) von verschiedenen Akteuren in den Blick ge­nommen werden. So kann herausgearbeitet werden, dass und wie das Phänomen im Diskurs Konturen gewinnt. Thematisch geht es um die Frage einer modernen ägyptischen Gesellschaft und darum, wie deren Einheit begründet werden kann und welche Rolle dem Islam dabei zukommen kann und soll (4).
Die Arbeit gliedert sich in sieben Kapitel unter den Überschriften 1 Einleitung (1–15), 2 Zwei Zugänge (16–61), 3 Säkularismus-Diskurs: Themen und Phänomene (62–159), 4 Grenzbereiche des ägyptischen Diskurses. Zwei Beispiele (160–206), 5 Der muslimische Intellektuelle als Sprecher zu Säkularismus und Islam (207–282), 6 Exkurs: Unbehagen an moderner Gesellschaftsordnung (283–291) sowie 7 Schluss: Gesellschaftliche Einheit und islamische Identität (292–306), es folgen ein Anhang, Literaturverzeichnis und Sach- und Personenregister (307–341).
In Kapitel 2 wählt der Vf. als ersten Zugang eine öffentliche Diskussion der 1980er Jahre, sodann als zweiten Zugang eine weitere öffentliche Auseinandersetzung zu Anfang des 21. Jh.s sowie deren mediales Echo, um die Diskurse zu analysieren. Daneben wird auf Publikationen von ägyptischen Autoren zurückgegriffen, die sich ausdrücklich mit al-calmānīya beschäftigen, schließlich wendet sich der Vf. zwei Autoren zu, die sich besonders umfassend zu dem Thema geäußert haben und deren Schriften bis heute aktuell sind, nämlich cAbd al-Wahhāb al-Missīrī (1938–2008) und Ǧamāl al-Bannā (1920–2013). Darüber hinaus stellt der Vf. die Frage, »welche Akteure al-calmānīya und Islam öffentlich konstruieren« und hebt damit auf die gesellschaftliche Rolle des sogenannten Islamischen Denkers (arab. al-mufakkir al-islāmī) ab, eine Rolle, die er an Ǧamāl al-Bannāund Fahmī Huwaydī exemplifiziert (5).
Methodisch weist der Vf. darauf hin, dass in der Arbeit die Frage wie säkular oder islamisch die Gesellschaft Ägyptens sei, nicht behandelt werde. Strukturell sei die Gesellschaft ausdifferenziert und also modern. Für den Begriff al-calmānīya wird zu Recht darauf verwiesen, dass Übersetzungen schwierig seien, da diese die Be­deutungsnuancen ihrer jeweiligen gesellschaftlichen und ge­schichtlichen Herkunft eintragen würden (im Französischen etwa der Begriff laïcité). Natürlich gebe es auch andere arabische Be-griffe, indes sei für das Thema Säkularismus oder Säkularität der Begriff al-calmānīya vorherrschend (6). Vf.: »Diese Studie geht nicht von einer verständigungsorientierten Debatte zu Islam und Sä-kularismus in Ägypten aus, sondern von einem Diskurs zu al-calmānīya, der seinen Gegenstand und die zugehörigen Akteure konstruiert.« (7) Für die 1980er Jahre und danach stellt der Vf. heraus, dass, wer als Säkularist bezeichnet wurde, Konsequenzen bis hin zu Todesdrohungen und Mordanschlägen zu fürchten hatte. Die Bezeichnung Säkularist trete meist als Fremdzuschreibung auf, während kaum jemand für sich in Anspruch nehme, Säkularist zu sein (8). Da aber von Kritikern des Säkularismus der Vorwurf, Säkularist zu sein, auch an Personen gerichtet werde, die sich selbst nicht so verstehen, wirft dies die Frage auf, was von diesen Kri-tikern als Säkularismus konstruiert werde, wie etwa Yūsuf al-Qaraḍāwī in seiner Kritik an Fuʼād Zakarīyā, der sich jedoch gar nicht zum Thema Säkularismus, sondern zum Thema des politischen Islam geäußert habe (7).
In der Studie werden daher nur diejenigen Autoren berücksichtigt, die sich ausdrücklich zum Thema al-calmānīya geäußert oder sich selbst als Säkularist (arab. calmānī) bezeichnet haben. Etliche Denker verhandeln ihre gesellschaftspolitischen Thesen zur Si­cherheit unter anderen Begriffen (wie etwa tanwīr), was es für viele Denker schwierig macht, diese einer Denkrichtung zuzuordnen. Begriffe wie progressiv oder konservativ bilden nach Meinung des Vf.s das komplexe Problemszenario ebenso wenig ab wie säkularis-tisch oder islamistisch, da solche Lager nicht auszumachen sind. Eher könne man von säkularismuskritisch oder säkularismusaffirmativ sprechen, aber auch dies nur mit Einschränkungen. (9)
Wenn man sich von der Annahme einer Front zwischen Säkularisten einerseits und Islamisten andererseits frei mache, könne man – so der Vf. – erkennen, »dass ein und derselbe Autor in Bezug auf Säkularismus nicht immer dieselbe Position einnimmt, sondern je nach Kontext und Definition von l-calmānīya verschiedene Problemfragen aufwirft« (10). Daher wird vor allem thematisch vorgegangen (10). In den darzustellenden Diskursen gehe es um öffentliche Auseinandersetzungen mit erheblichem Gewicht, wo­bei es nicht so sehr auf die Originalität der Autoren ankomme, sondern um die Frage gehe, welche Themen sie aufgreifen und welche Diskussionen durch sie angestoßen werden. Es geht also nicht um elaborierte Theorien zu l-calmānīya, sondern es geht um »die verschiedenen Perspektiven auf al-calmānīya als interne Beschreibungen der ägyptischen Gesellschaft«, die hier ablesbar sind (14).
Unter 2 Zwei Zugänge behandelt der Vf. eine Podiumsdiskussion aus dem Jahr 1989 unter Dialog über Islamismus und Säkularismus/Säkularität (16 ff.). Es handelte sich dabei um eine von der Universität Kairo ausgerichtete Veranstaltung, an der Persönlichkeiten wie der Islamwissenschaftler und Publizist Muḥammad cImāra (geb. 1931), der Jurist Ṭāriq al-Bišrī (geb. 1931), der bekannte islamische Intellektuelle und Jurist Muḥammad Salīm al-cAwwā (geb. 1942), der international bekannte Journalist Fahmī Huwaydī (geb. 1937) teilnahmen. (16, Personenangaben im Anhang, 307–309)
Unter 3 Säkularismus-Diskurs: Themen und Phänomene (62 ff.) arbeitet der Vf. unter anderem heraus, welches Verständnis von Ge­sellschaft in den Argumentationen und Kritiken von Autoren wie Muḥammad cImāra, Muḥammad Quṭb (1919–2014), Fahmī Huwaydī und anderen zum Tragen kommt. Es finden sich zunächst Konstruktionen eines Kampfes oder Krieges des Säkularismus mit dem Islam (etwa bei Ouṭb), bei dem die islamische Gemeinschaft (arab. umma) als Kollektivakteur als in einem Ab­wehrkampf stehend stilisiert werde (63–66). In der Perspektive Qaraḍāwīs wird Gesellschaft nicht als ein ausdifferenziertes Phänomen konstruiert, sondern »als Summe der Handlungen einzelner Individuen«, weshalb aus dieser Perspektive das Wohl der Gesellschaft unter anderem durch die Berufung von frommen (gemeint sind selbstverständlich islamische) Persönlichkeiten zu sichern gesucht wird. Säkularismus wird hier als Fokussierung auf das Individuum und als Vernachlässigung der Dimen-sion des Kollektivs konstruiert, was die Konzentration etwa auf die Ehe verständlich macht und die Reduktion des Einflusses des Islam auf gesellschaftliche Teilbereiche als Problem betrachtet (66–68). Dass Religion in den Bereich des Privaten abgedrängt wird, lastet Qaraḍāwī dem von außen kommenden Einfluss des Säkularismus an, eine systemtheoretische Deutung im Sinne funktionaler Differenzierung liegt ihm fern (68).
Fahmī Huwaydī versteht Gesellschaft kollektivistisch quasi im Sinne einer Großfamilie (70) und hält öffentliche Auseinandersetzungen um die Identität der Gesellschaft für ein Problem, da dies die Gesellschaft gefährde. Medial optiert er für abweichende Meinungen im eher privaten Bereich und kritisiert, etwa gegenüber dem Intellektuellen Sacīd al-Ašmāwī (1932–2013), dieser habe seine kritischen Gedanken nicht massenmedial veröffentlichen dürfen (68 ff.). Damit wird Meinungsfreiheit durch den Gedanken der Wahrung der öffentlichen Ordnung eingehegt. Dies wirft die Frage auf, ob damit Meinungsfreiheit nicht weitgehend in Frage gestellt wird (72 f.).
Der Vf. resümiert: »Huwaydīs Argumentation ist insofern als konservativ zu bezeichnen, als sie vorhandene Institutionen als bedroht ansieht (Umbruchssituation) und gleichzeitig als unverzichtbar (Erhalt).« Interessant ist die vom Vf. hier angefügte Fußnote, in der es heißt: »Formal lässt sich Huwaydīs Argumentation in ihrer Konservativität auch als nicht-religiös ansehen, denn es geht nicht primär um den Erhalt des Islam, sondern letztlich um den Erhalt der Gesellschaft, die zerfiele, würde man ihr ihre religiösen Grundfesten (gesichert durch Traditionen und Autoritäten) nehmen.« (73) Hier stellt sich die Frage, ob es nicht der Vf. ist, der hier seinen Religionsbegriff einträgt, um die Grenze zwischen religiös und nichtreligiös zu bestimmen. Es scheint für den Vf. ein Religionsverständnis als selbstverständlich vorausgesetzt zu werden, nach dem die Sphären von Religion und Gesellschaft deutlich getrennt sind. Wie »westlich-europäisch« aber ist diese Sicht?
Bei etlichen Autoren wird Säkularismus als Bedrohung von außen konstruiert, der sich die Gesellschaft innerlich vereint entgegenzustellen habe, so etwa die Forderung von Muḥammad cImāra. Dies wird durch den nicht einschlägig islamischen Begriff »waṭanī im Sinne von heimatlich, vaterländisch, national« ausgedrückt. Der Vf. weiter: »Die Verpflichtung zu nationaler Loyalität wird hier nicht ausschließlich islamisch verortet. Sie gehört sozusagen zur anderen Seite des Islam, die zwar mit dem Islam zusammenhängt, aber nicht eindeutig religiös einzuordnen ist. Allerdings setzt ein solcher Bezug auf Nation ebenso voraus, dass gesellschaftliche Einheit nicht ohne den Islam zu haben ist. Nationales, Politisches und Islamisches erscheinen zwar als voneinander un­terschieden, werden aber aneinander gekoppelt.« (74)
Unter 6 Exkurs analysiert der Vf. das Unbehagen von Personen wie al-Qaradawi im Blick auf die moderne Gesellschaft, etwa die Massenmedien betreffend. Irrige Meinungen werden von ihm und anderen Vertretern des religiösen Establishments oft verschwörungstheoretisch gedeutet, nicht aber funktionslogisch. Massenmedien müssen funktionslogisch auf Neues und Provokantes abheben, da sie in einer modernen (subsystemisch ausdifferenzierten) Gesellschaft der Marktlogik folgen, nicht aber einer »exklusiven Metaerzählung« dienen, die es so nicht mehr gibt (284 f.). Wenn Intellektuelle wie Abu Zaid zwar über den Islam, nicht aber im Namen des Islam sprechen, können ihre Meinungen leicht als außenstehend und säkular gedeutet (oder abgewertet) werden. Der Vf. meint, man solle hier nicht von Religionskritik sprechen, sondern es gehe darum, dass hier Religion als (mit einer Formulierung von Hubert Knoblauch) »Phänomen in der Welt« betrachtet wird, wohingegen die Perspektive eines Qaradawi nicht von dieser Realität, sondern von einem »idealisierten Modell-Islam« ausgeht (286 f.).
Qaradawi sieht im Säkularismus eine Entpflichtung des Individuums, die zu einem gesellschaftlichen Zerfall führen werde (288), ein Unbehagen an der Moderne, das auch unter westlichen Intellektuellen – wenn auch in anderer Diktion – durchaus ein Topos ist. Vf.: »Es geht um die Verortung der Identität einer Gesellschaft, die nicht mehr über ein einziges Wahrheitszentrum verfügt und damit zusammenhängend ohne eine allumfassende Metaerzählung auskommen muss; um eine Religion, die innerhalb einer modernen, massenmedialen Öffentlichkeit feststellt, dass Ideen zwar universellen Erklärungsanspruch haben können, aber Alternativen ausgesetzt sind, die sich nicht völlig ignorieren lassen, sondern immer wieder in öffentliche Kommunikation einfließen.« (290) Das Problem besteht dann darin, wenn zur Deutung der Gesellschaft auf »vormoderne Prämissen zurückgegriffen wird«, wie etwa die o. g. Verschwörungstheorien (291).
Es handelt sich bei dem Werk um eine vorzügliche Arbeit, die ebenso scharfsinnig wie material- und kenntnisreich neue Perspektiven auf die Problematik der Rede von Säkularität und Säkularismus im Blick auf mehrheitlich muslimische Gesellschaften eröffnet und in vergleichender Perspektive dazu herausfordert, gängige westliche Vorstellungen zu diesem Themenkomplex im Blick auf ihre meist unbewussten Vorannahmen kritisch zu hinterfragen.