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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

658-660

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Graf, Friedrich Wilhelm, u. Jens-Uwe Hartmann [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Religion und Gesellschaft. Sinnstiftungssysteme im Konflikt.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2019. VI, 290 S. m. 1 Abb. Geb. EUR 39,95. ISBN 9783110581256.

Rezensent:

Christian Polke

Third Mission ist aus der universitären Forschungs- und Hochschulpolitik hierzulande kaum mehr wegzudenken. Der Wissens- und Forschungstransfer in die breitere Öffentlichkeit, in Politik und Gesellschaft; ein breiteres Wissenschaftsmanagement, welches auf Innovation, Technologietransfer, wissenschaftliche Fortbildung, aber auch »Service Learning« und »Community Based Research« basiert, findet sich in jedem Portfolio, wenn es um Exzellenz- und andere Spitzenforschungsförderung geht. Dabei kann der Kerngedanke von Third Mission auch ganz simpel umgesetzt werden. Zum Beispiel, indem eine Staatsregierung angesichts der Ausgangslage (islamistische Terroranschläge von Paris 2015) sich bei ihrer Akademie der Wissenschaften meldet, um »politische Beratung in Fragen moderner Religionsforschung« (1) zu erbitten. Wenn diese sich wiederum daran setzt, dem Anliegen dergestalt Rechnung zu tragen, indem sie eine öffentliche Vortragsreihe veranstaltet, bei der Vertreter und Vertreterinnen aus den einschlägigen Disziplinen ihre Expertise präsentieren, dann bedarf es eigentlich nur noch einer leicht zugänglichen und preiswerten Publikation, um dem Grundgedanken von Third Mission entsprochen zu haben.
Lange Rede, kurzer Sinn: Der hier anzuzeigende Band über die konfliktreichen Dynamiken religiöser und politischer Akteure in den (zivil-)gesellschaftlichen Arenen der Öffentlichkeit lohnt die Lektüre. Auf knapp 300 Seiten präsentieren führende Vertreter und Vertreterinnen ihres Fachs Einsichten aus ihrer Forschung, zugespitzt auf die neuen Konfliktlagen, in denen sich Religion in den spätmodernen Gesellschaften aufhält und zu denen sie nicht geringfügig mit beiträgt. Einige der Abhandlungen, etwa diejenige von Horst Dreier zum Verhältnis des weltanschaulich neutralen Staates zur Religion (vgl. 49–81) oder die von Hans-Georg Kippenberg zu den nationalen wie internationalen Regulierungen von Religionsfreiheit seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 (vgl. 93–118) sind mittlerweile zu eigenständigen Buchpublikationen – durchaus mit öffentlichkeitswirksamem Er­folg – ausgeweitet worden. Das schmälert jedoch nicht die Auf-sätze, die sie zu diesem Band beigetragen haben. Denn so lassen sich die wesentlichen Argumente auf dichtem Raum zusammengefasst und in den Kontext mit anderen Perspektiven gestellt finden. Schon allein das hat Charme. Dass es immer wieder zu Konflikten zwischen Anhängern unterschiedlicher Religionen kommt, ist nichts Neues. Selbst ein scheinbar als überwunden geglaubtes Problem, wie das der Blasphemie (vgl. C. Türckes Beitrag, 83–92), kann sich als relativ akut erweisen. Doch auch als umfassende Systeme der Sinnstiftung konkurrieren Religionen miteinander und stehen untereinander in Konflikt. Zum Beispiel dort, wo es um Fragen des Geschlechterregimes geht. In gewohnt zugespitzter und etwas überreizter Form fragt Armin Nassehi nach der »Sexbesessenheit« von religiösen Sinnstiftungssystemen (vgl. 229–236). Aber auch die Formen und Formate von Digitalisierung führen zu neuen strukturellen Vergleichen hinsichtlich ihrer Transzendenz-weisen wie -verweisen, gleichsam in Überlappung von und Ab­grenzung zwischen Technik und Religion, wie Sabine Maasen (vgl. 237–254) herausstellt. Noch einmal anders liegen die Dinge, jedenfalls, wenn man genauer hinsieht, was die Auseinandersetzungen von »Islam« und »säkularer Moderne«, von islamischen Normen und der Rechtswirklichkeit säkularer Verfassungsstaaten gilt. Gud­run Krämer (vgl. 145–165) und Matthias Rohe (vgl. 166–187) zeichnen anschaulich und prägnant ein vielschichtigeres Bild als das, was bisweilen sogar in sog. Leitmedien präsentiert wird. Besonders lohnend ist schließlich, da hierzulande wenig verfolgt, die Analyse von Angelika Malinar, einer Indologin an der Universität Zürich, die den nationalistischen Deutungen des Hinduismus nachgeht (vgl. 201–228). Was auf den ersten Blick vielleicht widersprüchlich erscheinen mag, dass nämlich »Hindu-Sein« als die Form der spezifisch modernen, als säkular zu verstehenden Religion Indiens zu begreifen sei, wird durch die historische Feinanalyse klarer. Als Konstruktion einer kollektiven Identität abseits klassischer Religionsklassifikationen verdankt sie sich auch der Aufnahme postkolonialer Figuren, bleibt aber wesentlich mit verursacht durch die Folgen kolonialistischer Politik und den Debatten um die säkular-sozialistische Ausgestaltung des modernen Indiens. Ohne dieses Interessen- und Mentalitätsgefüge lassen sich weder der Aufstieg und Erfolg hindunationalistischer Parteien seit den frühen 2000er Jahren noch die daraus resultierenden Gefahren für Religionsfreiheit und einen dieser Geschichte entsprechenden in­dischen religiösen Pluralismus ernsthaft verstehen.
Was die Beiträge dieses Bandes, von denen nur einige hier ge­nannt werden können, eint – weitere stammen aus den Federn von M. Brumlik (vgl. 189–200), U. Roth (vgl. 255–270) und M. Striet (vgl. 271–282), hat der Leipziger Religionswissenschaftler Sebastian Schüller in seinem Aufsatz über die heuristische Leistungskraft von Simmels Konflikttheorie mit Blick auf die US-amerikanischen Kreationismen (vgl. 119–143) wie folgt auf den Punkt gebracht: »Durch den Prozess der Vergesellschaftung erfahren die Konfliktparteien eine Art Branding, also den Status einer Marke in der öffentlichen Wahrnehmung […] Sinnstiftungssysteme im Konflikt […] stärken die Identitätsbildung der Konfliktparteien. Die Wirkung der Vergesellschaftung ist dann besonders groß, wenn der Konflikt unterschiedliche Konfliktdynamiken erzeugt.« (130) Das ließe sich sogar für das Erstarken dezidiert säkularer oder auch säkularistischer Stimmen behaupten, wie Monika Wohlrab-Sahr in ihrem Beitrag (vgl. 21–48) aufzeigt, den sie treffend mit der Beobachtung beschließt: »Die ruhigen Zeiten sind vorbei« (47).
Was werden wohl die Auftraggeber zu diesen Einsichten gesagt haben? Welchen Eindruck hinterlässt die Lektüre dieser vielstimmigen, aber doch auch einsinnigen Diagnosen in der Öffentlichkeit, etwa hinsichtlich der Lage von Religion in unseren Gesellschaften? Der Ausblick mag Beunruhigung hervorbringen oder sogar noch verschärfen. Doch wem es zu mulmig dabei wird, dem sei abschließend die Einleitung eines der Bandherausgeber empfohlen. Durch Rückgriff auf einen Text von Ernst Troeltsch gelingt es Friedrich Wilhelm Graf (vgl. 2–19) pointiert aufzuzeigen, dass schon vor über hundert Jahren ganz ähnliche Beobachtungen und Fragestellungen die wissenschaftliche Religionsforschung in Un­ruhe versetzt hat. So verhilft gerade die Weitung des historischen Blicks zur besseren Einordnung der eigenen Lage. Das könnte geradewegs als Leitmaxime für »politische Beratung« dienen. Der herangezogene Text von Troeltsch »Religion« findet sich übrigens in einem Sammelband mit dem Titel: »Das Jahr 1913. Ein Gesamtbild der Kulturentwicklung«. Adressiert an Interessierte aus allen Berei chen der Gesellschaft stellt er selbst ein frühes Dokument einer zugegeben zeitbedingt noch rein non-digitalen Third Mis-sion dar.