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Ausgabe:

Juni/2021

Spalte:

611

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Schmoeckel, Mathias

Titel/Untertitel:

Kanonisches Recht. Geschichte und Inhalt des Corpus iuris canonici.

Verlag:

München: C. H. Beck 2020. XXIV, 337 S. = Juristische Kurz-Lehrbücher. Geb. EUR 79,00. ISBN 9783406749100.

Rezensent:

Thomas Hoeren

Die kirchliche Rechtsgeschichte war lange Zeit ein Thema, das ein exotisches Nischendasein fristete. Vor allem Lehrbücher und Un­terrichtsmaterialien stammten meist aus uralten Zeiten oder aus der italienischen Sphäre. Diesem Schattendasein hat nun der Bonner Ordinarius Mathias Schmoeckel mithilfe des Beck-Verlages ein Ende gesetzt. Nach Jahrzehnten der Stille hat S. ein neues Lehrbuch zum kanonischen Recht verfasst, das sich auf jeden Fall die An­schaffung und die Lektüre lohnt.
Unter kanonischem Recht versteht S. ausweislich des Vorwortes eine Einführung in das historische Recht der katholischen Kirche. Er beginnt mit einer breiten historischen Einleitung bis zur Entstehung des Corpus Iuris Canonici vom 12. bis zum beginnenden 14. Jh. Dabei spart er nicht mit Ausführungen zum Prozess Jesu und den Positionen im Urchristentum zum Recht (12 ff. und 17 ff.). Über die Spätantike gelangte er dann zur christlichen Gemeinde als Rechtsraum (53 ff.). Nach kurzen Hinweisen zum karolingischen Recht geht es dann zum Dekretum gratiani (149 ff.) und der päpstlichen Gesetzgebung des 13. Jh. (164 ff.). Im zweiten Teil beschreibt S. wesentliche Regelungsmaterien und Regelungsziele das kanonischen Recht, von der Kirchenverfassung über das Prozessrecht und das kanonische Wirtschaftsrecht bis hin zum Familienrecht und zum Strafrecht (ab 187 ff.). Abschließend geht er im kurzen Schlusskapitel auf die Kanonistik in der Neuzeit ein; darunter versteht er die Entwicklungen der Reformkonzilien und die »protestantische Reformation« (302 ff.).
Fachlich ist das alles gut geschrieben und brauchbar belegt. Und doch bleibt bei allem Spaß der Lektüre ein unwohles Gefühl. Was ist eigentlich das Erkenntnisinteresse von S.? Wieso sollte ein Student der Rechtswissenschaften ein solches Buch lesen? Schon der Titel ist verwirrend. Unter kanonischem Recht kann man auch das Kirchenrecht der Moderne verstehen, das S. eine einzige letzte Randnummer wert ist: zum CIC 1983 heißt es nur, dass »damit natürlich (sic!) die Bedeutung dieser historischen Rechtsmasse für die Interpretation gegenwärtiger Fragen des Kirchenrechts erhalten« bleibe (330). Wieso Bedeutung? Und insbesondere: wieso »natürlich«?
Ganz vereinzelt blitzt in dem Buch hin und wieder die angedeutete Bedeutung auf, etwa wenn es um die Rechtsprechung der Rota und deren Bedeutung in Europa geht (204). Aber schnell resigniert S., etwa wenn er deprimiert zum kanonischen Wirtschaftsrecht schreibt: »wir sind noch weit entfernt davon, den Reichtum dieser Quellen, die oft noch nicht einmal gedruckt sind, zu erfassen oder zu erkennen« (238). Der Leser bleibt ratlos zurück und versteht wirklich nicht, was der Klappentext meint, der die klassische Kanonistik als Grundlage der europäischen Rechtsordnung sowie der europäischen Staaten preist. Mehr liegt S. daran, wiederholt auf schlüpfrige Rechtsfragen der von ihm so bezeichn eten »Huren« einzugehen (240.242.262.273). Auch die sogenannten Protestanten kommen im Buch schlecht weg, einzig deren späte Hinwendung zur Kanonistik ist S. eine längere Randnummer wert (312 ff.).
Im Ergebnis liegt eine gut lesbare und mit brauchbaren Literaturhinweisen garnierte Zusammenstellung zur klassischen katholischen Rechtsgeschichte vor, allerdings ohne sinnvolle Erläuterungen zu deren enormer Sprengkraft für das heutige europäische Recht.