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Ausgabe:

Juni/2021

Spalte:

609–610

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Bielefeldt, Heiner, u. Michael Wiener

Titel/Untertitel:

Religionsfreiheit auf dem Prüfstand. Konturen eines umkämpften Menschenrechts.

Verlag:

Bielefeld: transcript Verlag 2020. 275 S. Kart. EUR 32,99. ISBN 9783837649970.

Rezensent:

Martin Morlok

Die Religionsfreiheit (unter Einschluss der Weltanschauungsfreiheit) ist seit Jahren Gegenstand zahlreicher Verfahren vor natio-nalen und internationalen Gerichten, auch die wissenschaftliche Diskussion hat sich ihr intensiv gewidmet. Ein wesentlicher Grund hierfür liegt im (migrationsbedingt) größer gewordenen religiösen Pluralismus. Das hier zu besprechende Buch erhält seine Prägung dadurch, dass seine beiden Autoren, Heiner Bielefeldt und Michael Wiener, jahrelange Erfahrung in den Menschenrechtsgremien der Vereinten Nationen haben. Dies schlägt sich in der Auswahl der Fallbeispiele nieder wie in der Heranziehung der Literatur, die deutlich internationaler ausgerichtet ist als in anderen deutschen Abhandlungen zum Thema.
Das Buch ist in zehn Kapitel gegliedert, die nach einer Einleitung je einem Problem gewidmet sind. Zunächst wird die Frage der Universalität der Menschenrechte bejahend behandelt, dann darauf eingegangen, dass die Religionsfreiheit auch die Freiheit zur Unfreiheit eröffnet, nämlich sich eine selbst gewählte Bindung aufzuerlegen. Hier wird größter Wert auf Zwangsfreiheit gelegt. Für den Glaubensinhalt wird auf das Selbstverständnis der Inhaber des Freiheitsrechts abgehoben. Die Unvermeidbarkeit von Schranken für die Religionsfreiheit wird anerkannt, dabei deutlich Stellung genommen gegen ein Abwägen der Religionsfreiheit gegen beliebige andere Interessen. Der Menschenrechtscharakter verlange, dass die Schrankenziehung einer »Rechtfertigungslogik« folge. Es wird aber gesehen, dass bei Kollisionen mit anderen Menschenrechten wieder Gleichstand herrscht, in diesen Fällen müsse in der jeweiligen Situation nach einer Lösung gesucht werden, die alle beteiligten Rechte zur möglichsten Verwirklichung kommen lassen. Ein durchlaufender Topos ist, dass Inhaber der Religionsfreiheit Menschen sind, nicht aber Religionen als solche, damit werden Blasphemiegesetze fragwürdig. Überhaupt gebe die Religionsfreiheit auch das Recht, religiöse Selbstverständnisse herauszufordern und zu kritisieren.
Das Verhältnis von Religionsfreiheit und Gleichberechtigung wird unter dem Schlagwort der »komplexen Gleichheit« behandelt. Das eröffne einen Raum für das Geltenlassen von Unterschieden. Die angestrebte komplexe Gleichheit meine eben nicht Homogenität. Je nach Glaubensinhalt könnten unterschiedliche Lösungen gefunden werden, um inakzeptable Härten zu vermeiden. Leitfigur ist die »Reasonable Accommodation« des amerikanischen Verfassungsrechts. Das Ziel sei eine substantielle, nicht nur formale Gleichheit. Es komme darauf an, Universalität und Kontextualität zusammenzubringen.
Die Ergebnisse werden an zwei Problemlagen erprobt, den Konflikten zwischen Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit und denen zwischen Religionsfreiheit und »Gender«. Letztere lasse die Religionsfreiheit auch im Inneren der Religionsgemeinschaften wichtig werden.
Religionsfreiheit verlange regelmäßig die religiöse Neutralität des Staates. Hier werden zwei Extremtypen benannt: exklusive Sä­kularität, welche Religion aus dem staatlichen Leben verbanne, und »inklusive Säkularität«, die offen sei für religiöse und welt-anschauliche Aktivitäten. Auch wird die Gefahr gesehen, dass der Sä­kularismus selbst Weltanschauungscharakter gewinnen könne.
Weiter werden Verletzungen der Religionsfreiheit abgehandelt und auf typische Motive hierfür untersucht, so etwa die Durchsetzung religiöser Wahrheitsansprüche oder die Aufrechterhaltung einer auch religiös definierten nationalen Identität. Richtigerweise wird die Möglichkeit der Überlagerung mit anderen Faktoren deutlich gemacht. Ein weiteres Kapitel gilt einem internationalen Vergleich der Rechtsprechung zur Religionsfreiheit. Hier wird die Wechselbezüglichkeit nationaler und internationaler Gerichte be­tont (»Koordination und Inspiration«).
Der Auseinandersetzung mit der Gewalt im Namen der Religion wird nicht ausgewichen. Die Reaktionen auf solche Vorkommnisse werden zu zwei Typen gefasst: einer apologetischen Antwort auf Gewaltakte im Namen der Religion, die die Gewalt nicht mit der Religion selbst in Zusammenhang bringen möchte, und einer essentialistischen Antwort, die Gewaltausübung mit dem »Wesen« einer Religion in Verbindung bringt. Die Autoren betonen dem-gegenüber die menschliche Verantwortung: Gehandelt werde im­mer von bestimmten Menschen in konkreten Situationen, die durch vielfältige Faktoren bestimmt seien. Als wesentlich zur Be­kämpfung von Gewalt wird ein Raum staatlich gesicherter gleicher Freiheit gesehen, in dem unterschiedliche Religionen friedlich zusamm enleben könnten. Rechtsstaatlichkeit sei also das Instrument gegen religiöse Gewalt. Religionsfreiheit könne auch eine Rolle spielen für die innerreligiösen Reformen, auch zur Bekämpfung gewalttätiger Bestrebungen. Schließlich wird vor einer Sakralisierung der Menschenrechte gewarnt. Es gehöre zur Natur von Freiheitsrechten, nicht nur für Liberale zu gelten. Der Staat dürfe keine internen Reformen von Religionsgemeinschaften betreiben, wohl aber habe er die Zwangsfreiheit zu gewährleisten, insbesondere durch Sicherung der Austrittsfreiheit. Letztlich habe die Religionsfreiheit eine kritische Wächterrolle innerhalb der Menschenrechte, diese seien keine globale Humanitätsreligion. Übertreibungen im Namen der Menschenrechte könnten durch die Religionsfreiheit zurückgewiesen werden.
Das Buch profitiert entscheidend vom weltweiten Horizont der Anschauung. Es besticht durch seine breite Informiertheit über die Lage der Religionsfreiheit und hilft gegen naheliegende nationale Engführungen der Debatte. Die internationale Orientierung hat aber darin eine Kehrseite, dass die einschlägige deutsche verfassungsrechtliche Diskussion mit ihren zum Teil durchaus parallelen Ergebnissen weniger berücksichtigt wird, so ist etwa die Figur der die eigene Überzeugung »schonenden Alternative« ein funktionales Äquivalent zur amerikanischen »Reasonable Accommoda-tion«. Das Buch verzichtet weitgehend auf den Anschluss an die deutsche Diskussion, was für mit dieser weniger vertraute Leser bedauerlich ist und auch die Wirkungschancen der Abhandlung schmälert.
Ein zentrales Anliegen ist es, den Akzent auf die Menschen als Träger der Religionsfreiheit zu setzen. Diese Betonung der individuellen Radizierung des Rechts überzeugt auch insofern, als manche Konfliktlagen dadurch entschärft werden. Auch der durchgängigen Betonung der Zwangsfreiheit im Bereich der Religion gehört volle Zustimmung. Trotz aller Betonung der Verantwortung der Einzelnen verdient auch die Hervorhebung der Rolle vertrauenswürdiger freiheitssichernder staatlicher Institutionen unbedingt Zustimmung. Die durchweg anregende Lektüre wird allerdings beeinträchtigt durch nicht unerhebliche Redundanzen und Wiederholungen der durchaus beifallswürdigen Positionen der Autoren.