Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2021

Spalte:

599–602

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kopp, Stefan, u. Benjamin Krysmann [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Online zu Gott?!Liturgische Ausdrucksformen und Erfahrungen im Medienzeitalter.

Verlag:

Freiburg u. a.: Verlag Herder 2020. 240 S. = Kirche in Zeiten der Veränderung, 5. Kart. EUR 26,00. ISBN 9783451388255.

Rezensent:

Jochen Arnold

Dieser Aufsatzband knüpft an eine Tagung in der Erzdiözese Rottenburg-Stuttgart, verbunden mit dem Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft der Universität Paderborn, an, die bereits im Herbst 2019, also etliche Monate vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie, stattgefunden hat. Im Nachhinein zeigt sich, dass die systematisch-theologischen, liturgiewissenschaftlichen und pastoraltheologischen Beiträge ein hohes Maß an Relevanz hatten. Drei Teile weist das Buch auf: 1. Standpunkte zu Kirche und Medien; 2. Reflexionen z u Liturgie und Digitalität sowie 3. Einblicke in Praxisfelder zu aktuellen Diskussionen als Ausblick. Die Herausgeber bündeln vorab die relevanten Diskurse und Fragen in ihrer Einleitung »Liturgie und Medien«. Dabei wird u. a. auf bereits in die 1950er Jahre zurückgehende Stellungnahmen zu Fernsehgottesdiensten rekurriert. Prominente Kritiker wie Romano Guardini und Karl Rahner kommen zu Wort, die den »personalen Akt« des Gottesdienstes durch TV-Übertragungen bedroht sahen. Unterschiedliche Zielsetzungen wurden in den folgenden Jahrzehnten herausgearbeitet: Übertragungen wird eine partizipatorische, missionarische oder dokumentarische Ausrichtung (egal ob live oder aufgezeichnet) zugeschrieben. Diese Unterscheidungen lassen sich auf live im Internet gestreamte Gottesdienste gut übertragen. Hinzu kommen neuerdings auch begleitende Chatfunktionen, virtuelle Andachtsräume und flankierende Social-Media-Aktivitäten.
Die Diskussionen im Anschluss an den ersten Lockdown 2020, bei dem klare Positionen, z. B. im Blick auf die digitale Eucharistie, erkennbar wurden, sind gut nachgezeichnet: Die drei Liturgiewissenschaftler A. Gerhards, B. Kranemann und S. Winter kritisieren digitale Übertragungen und sagen pointiert: »Privatmessen passen nicht zum heutigen Verständnis von Eucharistie«. Sie fürchten eine Rückkehr zur vorkonziliaren »Priestermesse«. Der Dogmatiker J. H. Tück kritisiert Online-Eucharistie sehr grundsätzlich: »Wir feiern Realpräsenz, nicht Virtual-Präsenz.« (18)
Im Folgenden werden »pars pro toto« für den ganzen Band die Beiträge von Teresa Berger, Stefan Böntert und Bernd Irlenborn exemplarisch dargestellt.
Irlenborns systematisch-theologischer Beitrag nimmt zunächst Einsichten aus den 1990er Jahren auf, wo im englischsprachigen Diskurs von einer Mixed Reality (MR) gesprochen wurde, die analoge und digitale Welt in einem Kontinuum von Übergängen beschreibt. Neben dem rein Analogen und rein Digitalen stehen »augmented reality« (durch digitale Medien ergänzte analoge Welt) und »augmented virtuality«. Von diesen vier Dimensionen aus müsse die »ontologische Kartografierung« in Zukunft ausgehen (110–113). Das hieße für die Liturgie: Der klassische analoge Gottesdienst stünde neben einem Gottesdienst, bei dem Smartphones punktuell zum Einsatz kämen. Die nächste Stufe wäre eine An­dacht im virtuellen Raum, bei der immer angezeigt würde, wie viele (reale) Menschen gerade hier aktiv sind. Die »höchste« Form an Digitalität wäre etwa ein Gottesdienst im Cyberspace, bei dem die Teilnehmenden mit Hilfe eines Virtual-Reality-Headsets und eines Avatars kommunizierten (vgl. 115 f.). Irlenborn greift auch die grundsätzliche Alternative von online religion vs. religion online auf, die erstmals 2000 von dem kanadischen Religionssoziologen C. Helland formuliert wurde: »Religion online steht für eine traditionelle Religion mit hierarchischen, auf Institutionen beruhenden Autoritäts- und Kommunikationsstrukturen, für die der digitale Umbruch nur funktional zu verstehen ist […] Online religion dagegen bezieht sich auf eine Religion, bei der die religiöse Erfahrung […] partizipativ über den medialen Austausch verbreitet und ge­lebt wird.« (114 f.) Helland hält allein Letztere für zukunftsfähig. Irlenborn warnt dann vor einer rezeptionsgeleiteten Akzeptanz all dessen, was sich im Internet durchsetzt oder gefragt ist, und skizziert vier orientierende Kriterien zur »genaueren Bestimmung von Theologie, Kirche und Liturgie im virtuellen Raum«: Es geht ihm um eine jeweils angemessene Bestimmung der Repräsentanz des Heiligen, der Partizipation der Feiernden, der Aktualität (Ein-maligkeit) des Ritus und der Transformation des Weltlichen in einem Gottesdienst, ganz gleich, ob er digital oder analog statt-findet.
Stefan Böntert, der sich schon in seiner Dissertation von 2005 mit dem Thema Gottesdienste im Internet (Stefan Böntert, Gottesdienste im Internet. Perspektiven eines Dialogs zwischen Internet und Liturgie, Stuttgart 2005) auseinandergesetzt hat, skizziert in seinem Beitrag »Gottesdienst nach dem Digital Turn« die »Neuvermessung eines theologischen Feldes«. Digitalisierung deutet er wertfrei als Motor »religiöser Pluralisierung« (vgl. 69) bzw. »rituellen Glaubensausdrucks«. Als Herausforderung beschreibt er, dass gerade im rituellen Bereich neue Medien und Orte wie »virtuelle Friedhöfe« und »Cyber-Wallfahrten« etabliert worden seien, und verweist auch auf die #Twomplet, eine ökumenische Form des < /span>Nachtgebets mit großer Online-Gemeinde, die aus der Complet entwickelt wurde. Böntert fragt dann nach den theologischen Grundlagen liturgischer Praktiken bzw. nach »Pluralität und Medien-fähigkeit des Gottesdienstes schlechthin«.
Dabei kommt er zu­nächst auf die »Dimension der Leiblichkeit« zu sprechen, die auch »in der digitalen Welt keineswegs gegenstandslos« sei. Wesentlich ist ihm jedoch, Kirche als Gemeinschaft zu begreifen, »die Raum und Zeit überschreitet«, da sie »allein durch Christus gestiftet und geistlich zusammengehalten ist.« (72 f.) Er problematisiert daher die Termini der aktiven und »nur« vermittelten bzw. intentionalen Teilnahme an Liturgien (z. B. im Fernsehen oder Internet) und fordert eine Neubestimmung des konziliaren Begriffs der »participatio actuosa« (75 f.). Böntert sieht in der Ausdifferenzierung des liturgischen Angebots im Internet Chancen für eine moderne Gottesdienstkultur, warnt aber auch vor einem Akzeptanzverlust des Ritus der Kirche (vgl. 79 f.). Am Ende steht eine verhaltene »Zwischenbilanz«: »Die digitalen Projekte sind eine Ergänzung, aber kein Ersatz für das Gottesdienstleben der Kirche.« (82)
Die amerikanische Liturgiewissenschaftlerin Teresa Berger (Yale) fokussiert in ihrem Beitrag »Sakramentale Vollzüge online« besonders das Abendmahl. Sie sucht nach einem Mittelweg zwischen der radikalen Ablehnung virtueller geistlicher Praktiken zum einen und der »unbeschwerten« Zustimmung zum anderen, wie sie etwa in »Internet-Taufen« (vgl. 85) greifbar seien. Grundsätzlich sieht sie – wie S. Böntert – die Selbstmitteilung Gottes stets an »Medien« oder »mediale Ereignisse« (vgl. 88) gebunden. Dies lässt ihrer Meinung nach Gottes Offenbarung in Christus bzw. seine heilsame Gegenwart in den Sakramenten gerade mit digitalen Formen gut verbinden. Berger unterscheidet zwei kontroverse Positionen. Die Konservativen insistierten darauf, dass christlicher Glaube stets mit Inkarnation und Verleiblichung verbunden sei. Darum gebe es für sie online keine echte Realpräsenz. Es brauche eine »physische Versammlung des Gottesvolkes« (92). Die andere Seite betone die »Allmacht Gottes«, der auch im Internet grenzüberschreitend am Wirken sei. Diese Position, vertreten etwa durch Katherine Schmidt (Katherine Schmidt, Virtual Communion. Theology of the Internet and the Catholic Sacramental Imagination, Lanham 2020), geht davon aus, dass Sakramentalität und Virtualität grundsätzlich in Einklang gebracht werden könnten. Die Aufgabe von Theologie und Kirche bestehe daher u. a. darin, das geistliche Geschehen des Empfangens Christi im Sakrament auf unterschiedlichen Stufen zu deuten, wie es etwa Alexander von Hales (1185–1245) mit den Be­griffen sacramentaliter, spiritualiter, carnaliter gelungen sei. Diese Trias könnte nun durch den Aspekt virtualiter ergänzt werden. Berger fragt auch nach sakramentalen Praktiken in der Geschichte und stellt fest, dass schon in der Alten Kirche die Eucharistie zu Kranken und Sterbenden gebracht wurde, ein Indiz dafür, dass die heilsame Gegenwart Gottes schon früh über den gottesdienstlichen Vollzug hinaus geglaubt wurde, ja dass die universale Kirche »über den ganzen Erdkreis und in die Ewigkeit hinein« (98) zu denken sei. Das zentrale Problem formuliert sie so: »Wenn man die physische Nähe als das entscheidende Problem digital vermittelter sakramentaler Vollzüge versteht, muss man zumindest eine überzeugende Antwort auf die Frage bieten, was genau […] die Trenn- linie zwischen liturgischer Präsenz und Absenz darstellt.« (100) Hier gälte es u. a. zu bedenken, dass etwa durch die Geolokation beim Smartphone Räumlichkeitserfahrungen möglich seien, die über die Kategorien »physisch anwesend« bzw. »abwesend« deutlich hinausgingen (vgl. 100).
So müsse man im Zuge einer neuen Verhältnisbestimmung von Digitalität und Materialität möglicherweise auch fragen, ob nicht »ein dynamisches Äquivalent zum materiellen Zeichen von Brot und Wein in seiner physischen Beschaffenheit im digitalen Raum zu entwickeln« sei (101). Gedacht ist dabei wohl an eine Art »Cyber-Brot« o. Ä. Als Problem benennt die Autorin die scheinbar ständige »Verfügbarkeit« sakramentaler Angebote im Internet und damit die Gefahr einer Auflösung leiblich-zeitlicher Verbindlichkeit der gottesdienstlichen Versammlung.
Fazit: Theologisch – d. h. denkerisch – ist »Gott nicht das Problem« (102). Seine Gegenwart könne an allen Orten und zu allen Zeiten gedacht und geglaubt werden. Auch Medien bzw. mediale Vermittlung – von Bileams Esel über Krippe, Kreuz, Brot und Wein– bis hin zum Digitalen seien etwas, was zur Geschichte der Kirche und des Glaubens dazugehöre. Von daher werfe die Frage nach sakramentalen Vollzügen online keine wirklich neuen (fundamental)theologischen Probleme auf, sondern stelle eher eine Herausforderung an die Kreativität theologischer Reflexion und pastorale Verantwortung dar.
Ein für die aktuelle Situation äußerst aufschlussreicher und orientierender Aufsatzband mit weitem Horizont, dessen gedank-liche Schätze gerade in den Zeiten der noch anhaltenden Pande-mie unbedingt gehoben werden sollten. Es schlägt eine wichtige Brücke in den (besonders durch angelsächsische Literatur be­stimmten) Diskurs vor der Corona-Pandemie 2020/21 und ist auch evangelischen Lesenden zu empfehlen.