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Ausgabe:

Juni/2021

Spalte:

592–594

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Neuhäuser, Christian, u. Christian Seidel [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Kritik des Moralismus.

Verlag:

Berlin: Suhrkamp Verlag 2020. 490 S. = suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 2328. Kart. EUR 28,00. ISBN 9783518299289.

Rezensent:

Alexander Dietz

Reformatorische Theologie betont die hohe Relevanz einer rechten Unterscheidung von Gesetz und Evangelium: Moral an der falschen Stelle verdunkelt die Evangeliumsbotschaft, Moral kann nicht erlösen. Schon darum ist das Thema des Moralismus aus theologischer Sicht besonders interessant. Darüber hinaus zeigt die aktuelle internationale Debatte zu den besorgniserregenden Auswüchsen der so genannten Cancel Culture, wie wichtig es ist, sich mit dem Phänomen des Moralismus differenziert auseinanderzusetzen. Insofern haben Christian Neuhäuser, Professor für Praktische Philosophie an der TU Dortmund, und Christian Seidel, Professor für Philosophische Anthropologie am Karlsruher Institut für Technologie, mit der Herausgabe dieses Sammelbandes, der eine Konferenz mit anschließendem Diskussionsprozess vorausging, prinzipiell eine dankenswerte Aufgabe übernommen.
Es soll, so die Intention der Herausgeber, geklärt werden, was Moralismus eigentlich ist und wie er unsere Debattenkultur verändert, ob Moralismus immer falsch ist, wie Menschen auf moralische Missstände reagieren sollten und schließlich, ob bestimmte Strömungen der Moralphilosophie zu Moralismus neigen. Insgesamt soll die Reflexivität und Differenziertheit des öffentlichen Diskurses gesteigert werden. Der Band ist in vier Teile gegliedert, auf die die Beiträge der insgesamt 18 Autorinnen und Autoren aus dem Bereich der Philosophie verteilt wurden. Im ersten Teil geht es um die Frage, was genau Moralismus ist. Im zweiten Teil wird diskutiert, was genau eigentlich daran falsch sein soll, moralistisch zu sein. Im dritten Teil wird anhand von Beispielen aus der Philosophiegeschichte danach gefragt, inwiefern moralphilosophische Untersuchungen selbst moralistisch sein können. Und im vierten Teil wird im Blick auf konkrete Beispiele reflektiert, wie die richtige Reaktion auf moralische Missstände aussehen könnte.
Eine Schwäche des Bandes besteht in einer gewissen Einseitigkeit bei der Auswahl der Autoren. Alle scheinen sich (im Sinne einer bestimmten politischen Weltanschauung) einig zu sein im Kampf für Veganismus, Fair-Trade-Kaffee, Fair-Trade-Schokolade, einen Verzicht auf importierte Südfrüchte und Flugreisen, eine Begrenzung von Managergehältern usw. Fast alle scheinen sich (im Sinne eines bestimmten moraltheoretischen Ansatzes) einig zu sein, dass es auf moralische Fragen eindeutige und standortunabhängige Antworten gebe, die sie zweifelsfrei kennen und die jeder Ge­sprächspartner irgendwann einsehen muss. Diejenigen, die gegenüber genau solchen Positionen einen Moralismusvorwurf erheben, kommen nicht selbst zu Wort.
Es gelingt nicht, eine überzeugende, einheitliche (Arbeits-)Definition des Begriffs Moralismus zu finden. Das mag bei einem facettenreichen und faktisch uneinheitlich verwendeten Begriff auch schwierig sein. Es kann jedoch gar nicht gelingen, solange an keiner Stelle der Versuch unternommen wird, erst einmal den Begriff der Moral zu definieren. Stattdessen wird Moral unreflektiert mit bestimmten moralischen Überzeugungen gleichgesetzt. Aspekte des Moralismus, die immer wieder aufgegriffen werden, sind zum einen die Überschreitung des Zuständigkeitsbereichs der Moral, zum anderen die Überschreitung des Zuständigkeitsbereichs desjenigen, der moralische Vorwürfe erhebt, und schließlich problematische Haltungen (Selbstgerechtigkeit, Heuchelei, mangelndes Einfühlungsvermögen) desselben. Einzelne Autoren schlagen neue, nicht unbedingt überzeugende Definitionen vor (beispielsweise Moralismus als Verwechslung von Moral und Etikettennormen).
Mitunter kann man beim Lesen den Eindruck gewinnen, dass anstelle des Titels »Kritik des Moralismus« besser der Titel »Verteidigung des Moralismus« hätte gewählt werden sollen. Die Autoren betonen, dass moralische Kritik nicht voreilig als moralistisch abgetan werden dürfe. Insbesondere moralische Kritik an nicht-veganer Ernährung, Urlaubsflügen und anderem »unethischen Konsumverhalten« (25) oder auch an hohen Managergehältern sei zweifelsfrei berechtigt und daher keinesfalls moralistisch. Mora-lismuskritik werde als »Diskussionsstopper« (30) missbraucht, sei tendenziell selbst moralistisch (58) und trage zu einer »Relativierung und Provinzialisierung der Moral« (184) bei. Demgegenüber sei Moralismus häufig gesellschaftlich wünschenswert, da er zur Durchsetzung des moralisch Richtigen beitrage (59.213.365). Daher sei Moralismus überall dort »gegen moralische Kritik gefeit« (236), wo er in diesem Sinne effektiv sei. Moralische Empörung sei so lange ein unverzichtbares Mittel, bis die von den Autoren vertretenen moralischen Positionen mit staatlichem Zwang durchgesetzt würden (356). An ebensolchen Formulierungen werden die Gefahren moralistischen Denkens, wie sie bereits vor längerer Zeit von Denkern wie Herrmann Lübbe, Niklas Luhmann oder Ernst Tugendhat benannt wurden, evident. Im Blick auf den Moralismus als Herrschaftsinstrument zur Ausgrenzung Andersdenkender scheint bei vielen Autoren des Sammelbandes ein soziologischer blinder Fleck zu bestehen.
Einzelne Beiträge sind gleichwohl lesenswert. Eva Buddenberg bemüht sich um eine Differenzierung in der Frage, wer wen im Na­men welcher Moral kritisiert, insbesondere im Blick auf eine Einmischung in die Lebensführung anderer, wenn eine Angelegen-heit den Kritisierenden nichts direkt angeht. Beatrix Himmelmann stellt sachkundig Friedrich Nietzsches »nach wie vor hochaktuelle« (270) Kritik am Moralismus dar, die sich auf aufklärerische Moralvorstellungen insgesamt bezieht und an die Stelle von Gut und Böse das Lebensfördernde und das Lebensverneinende setzt. Tim Henning erläutert den überraschenden Befund, dass Immanuel Kant, dessen Ethik prädestiniert für den Moralismusvorwurf zu sein scheint, in seiner Rechtslehre entschieden antimoralistisch argumentiert, weil für ihn intersubjektiver Zwang aus moralischen Gründen mit der Moral unvereinbar erscheint. Fabian Wendt reflektiert redlich den Moralismus, der in der neueren Migrationsdebatte eine Rolle spielt, natürlich nicht ohne zu betonen, dass das nicht bedeute, dass er die Positionen der Moralisten für falsch oder die Positionen der im Diskurs Ausgegrenzten für richtig halte. Martina Herrmann kommt in ihrem erfrischend be­scheidenen Schlussbeitrag anhand des Alltagsbeispiels einer Ruhestörung im Zug zum (eigentlich selbstverständlichen) Ergebnis, dass Moralismus wesenhaft übergriffig sei, da andere Menschen das Recht haben, aus ihrer Perspektive moralisch anders zu urteilen als man selbst.
Während inhaltlich das beinahe durchgängige Schwarz-Weiß-Denken der Autorinnen und Autoren den Leser irritiert, stört formal die Verwendung des generischen Femininums den Lesefluss.