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Ausgabe:

Juni/2021

Spalte:

578–580

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Ryu, Seongmin

Titel/Untertitel:

Dulcissimae Carmina Ecclesiae. Theologie und Exegese des Psalmenkommentars Melanchthons.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019. 200 S. = Refo500 Academic Studies, 54. Geb. 70,00. ISBN 9783525573136.

Rezensent:

Patrick Bahl

Die Untersuchung ist von der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Apeldoorn als Dissertation angenommen und von Herman J. Selderhuis betreut worden. Seongmin Ryu ist derzeit als Research Professor am Asia Center for Theological Studies and Mission im südkoreanischen Yangpyeong tätig.
Mit der Interpretation des Psalmenkommentars Melanchthons widmet sich R. einer anspruchsvollen Aufgabe und einem echten Forschungsdesiderat, denn größere Arbeiten zu diesem Themenbereich sind in den letzten 50 Jahren nicht erschienen, die hermeneutischen, exegetischen und rhetorischen Voraussetzungen der Bibelauslegung des Reformators stellen nach wie vor ein ergiebiges Forschungsfeld dar und das umfangreiche Quellenmaterial ist bisher nur sporadisch erschlossen worden. Wie der Titel der Arbeit ankündigt, verfolgt R. bei seiner Erschließung des Kommentars einen dezidiert systematisierenden Zugang: Er möchte die ekklesiologische Auslegungsperspektive Melanchthons erschließen.
In einer knappen Einleitung (11–15) skizziert R. den – wie bereits erwähnt – überschaubaren Forschungsstand. Im zweiten, nicht weniger bündigen Kapitel (17–23) behandelt R. den historischen Hintergrund und die Überlieferungsgeschichte des Psalmenkommentars. Dabei kapriziert er sich vor allem auf die Gefährdung der Reformation durch den Schmalkaldischen Krieg und das Interim, womit die realpolitische »Großwetterlage« jener Zeit zwar berücksichtigt, die Situation Melanchthons an der Wittenberger Fakultät, vor allem seine nicht unumstrittene Vermittlungsposition zu je-ner Zeit, jedoch nur vage angedeutet wird. Sodann möchte sich R. »Methode und Charakter der Exegese des PKs« (25–49) annähern: Hier geht er auf Melanchthons vom Humanismus geprägten, rhetorischen Zugang zu den Psalmen ein, vor allem die in den Elementa Rhetorices verdichtete Lehre von den Redegenera, der klassischen, fünf- bis sechsteiligen Redestruktur und der loci-Systematik, skizziert sodann Melanchthons theologisch-hermeneutische Prämissen, u. a. die vorausgesetzte Einheit von Altem und Neuem Testament, die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium als exegetisches Leitprinzip und die davidische Herkunft der Psalmen, und benennt charakteristische Eigentümlichkeiten seiner Auslegung wie ihre pädagogische Zielrichtung, das Ideal exegetischer Klarheit und – als Schlüsselkategorie – die pragmatische Bedeutung des Psalters für die Selbstvergewisserung der (angefochtenen evangelischen) Kirche. Nun möchte letztere, ekklesiologische Prämisse weniger durch die von R. aufgezeigten Postulate Melanchthons einleuchten (R. zitiert hier einige Stellen aus dem Kommentar, die eine Analogie zwischen den Betern der Psalmen und den Gläubigen nahelegen, schlussfolgert dann auf S. 49 [die sprachliche Gestaltung des Textes ist teilweise sehr herausfordernd]: »Die Psalmen zeigen die Beispiele der Freiheit, und so kann die Kirche sich überzeugen. Die Lehre der Anwendung der Beispiele ist immer nötig in den ähnlichen Angelegenheiten der Kirche.«), sondern eher durch die Analyse im vierten Teil (dem Herzstück der Arbeit) Bestätigung finden, in deren Zuge R. ausgehend von Melanchthons Loci wesentliche theologische Sinnlinien des Psalmenkommentars einfangen will. Diese Erschließungsmethode fördert nun ein ambivalentes Ergebnis zu Tage. R.s große Leistung besteht nicht nur darin, dass er übergreifende Deutungsstränge des Kommentars herausarbeiten kann – ausgehend vom Gottes- und Offenbarungsbegriff (51–63) über die Schöpfungs- und Sündenlehre (63–80), den Evangeliumsbegriff und die Soteriologie (80–96), die Ekklesiologie (96–111) hin zum Beziehungsgeschehen zwischen Kirche und Gott, welches R. in der Komplementarität der »anrufende[n] Kirche« und des »er-hörende[n] Gott[es]« fassen möchte (111–145). Vielmehr kann R. zeigen, dass die ekklesiologische Sinnlinie für den Kommentar als Ganzen konstitutiv ist. Nur ein Beispiel: R. macht deutlich, dass Melanchthon in seinem Psalmenkommentar eine markante Differenz hinsichtlich der Signifikanz der Schöpfungs-, Sünden- und Gesetzeslehre für Kirche und Welt unterstreicht, nämlich ein inneres Verstehen (der Kirche) und ein äußerliches Missverstehen (der Welt), sei es der göttlichen Vorsehung, der verschiedenen Geset-zesformen oder der Sündhaftigkeit des Menschen. Damit erweist R. der Erforschung der Ekklesiologie Melanchthons einen Dienst, und der Psalmenkommentar wird künftig als ekklesiologischer Referenztext ernstgenommen werden müssen. Ein Problem der Untersuchung zeigt sich nun aber darin, dass R. seine Ergebnisse nicht an die komplexe Entwicklungsgeschichte der Loci zurückbindet. Sie geben ihm zwar die zentralen Kategorien seiner Untersuchung vor, doch wäre eine kritische Auseinandersetzung mit den markanten Abweichungen und Schwerpunktverschiebungen zwischen Loci und Kommentar ergiebig gewesen, was auch das letzte Kapitel, ein Vergleich mit den »Heubtartikeln« von 1553/58, nicht mehr einzuholen vermag. Ein zweiter Kritikpunkt zielt darauf, dass R. aufgrund seines stark systematisierenden Zugangs die rhetorischen und exegetischen Analyseinstrumente Melanchthons, die er ja selbst im dritten Kapitel seiner Arbeit erschlossen hat, nicht mehr für seine Interpretation fruchtbar macht, etwa in Form einer detaillierteren, geschlossenen Analyse einzelner für die Ek­klesiologie des Reformators einschlägiger Psalmen. Melanchthons exegetische Perspektive ist immer von der Idee des Skopus getragen, der sich grammatikalisch, logisch-dialektisch und rhetorisch (durch die Bestimmung des genus) erfassen lässt. Seine Auslegung biblischer Texte, die hier und dort auch ganz nonchalant ins Allegorische tendieren kann (etwa in der Postilla), beruht immer auf dem Postulat einer organisierenden Mitte, von der aus sich der biblische Text auslegen und auf die theologischen Loci beziehen lässt. R. hat das präzise erfasst, nur spielt es für seine Untersuchung der Theologie des Kommentars keine erkennbare Rolle. Wenn der systematisierenden Darstellung wenige Einzelstudien zur Seite gestellt worden wären, wäre vielleicht auch der Vergleich zeitgenössischer Psalmenkommentare anschaulicher und konkreter ausgefallen, dem sich R. im letzten Teil seiner Arbeit widmet, wenn er das exegetische und theologische Profil des Kommentars Melanchthons mit dem Luthers, Bugenhagens, Bucers, Calvins und Ca-jetans vergleichen möchte. Zweifelsohne verschafft R. dem Leser hier einen ge­winnbringenden Überblick und tatsächlich gelingen ihm einige sehr präzise und signifikante Beobachtungen, etwa, wenn er Funktion und Bedeutung der Allegorese und Typologie bei den Reformatoren gewichtet (vgl. 177). Anhand einer vergleichenden Studie zu einem einzelnen Psalm hätte R. aber noch deutlicher aufzeigen können, was er im dritten Teil seiner Arbeit impliziert hat: dass rhetorische Analytik, theologisches Abstraktionsvermögen und ekklesiologische Pragmatik in Melanchthons Psalmenkommentar Hand in Hand gehen.